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Die Rekonstruktion von El Lissitzkys „Kabinett der Abstrakten“ auf dem Prüfstand: Geschichte, Museumspraxis, Pläne
ABB 1 Die Rekonstruktion von El Lissitzkys Kabinett der Abstrakten, 1927 (1968/1979), 2008 im Sprengel Museum Hannover
ABB 2Die Rekonstruktion von El Lissitzkys Kabinett der Abstrakten, 1927 (1968/1979), 2015 im Sprengel Museum Hannover
Geschichte
Stellenwert der Rekonstruktion
Zweifellos ist es lange überfällig, die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der Rekonstruktion von El Lissitzkys Kabinett der Abstrakten im Sprengel Museum Hannover [ABB 1 +2] zu thematisieren: Mit welcher Berechtigung wird diese Kopie von einem der Hauptwerke des russischen Künstlers[1] im Museum gezeigt? Würde es sich dabei um ein ursprünglich von ihm selbst gefertigtes Gemälde und nicht um ein von Handwerkern nach seinen Entwürfen gebautes Ausstellungsdisplay handeln, hätte man sicherlich größere Skrupel, eine Rekonstruktion dieses Werks auszustellen. Die kunstwissenschaftliche Forschung konzentriert sich naturgemäß auf die Entwürfe des Künstlers und die originale Ausführung von 1926/27. Ob die umfangreiche Sekundärliteratur zum Kabinett der Abstrakten[2] jedoch in diesem Maße entstanden wäre, gäbe es nicht seit fast fünfzig Jahren den rekonstruierten Raum, mag dahingestellt bleiben. Der Nachbau befriedigt unser Bedürfnis nach einer Materialisierung der verlorenen Inkunabel der Moderne, auch wenn er die Möglichkeit einer „Verfälschung der künstlerischen, ästhetischen und materiellen Wahrheit“[3] birgt und die Mythisierung des Werks sicherlich fortschreibt.
Das Thema ‚Hannover in den 1920er-Jahren’ stellt einen der Sammlungs- und Forschungsschwerpunkte des Sprengel Museum Hannover dar und begründet wesentlich seinen internationalen Rang. In dieser Zeit wirkten Künstler wie Kurt Schwitters und El Lissitzky in der Stadt; progressive Kuratoren wie Alexander Dorner, ab 1919 im Provinzial-Museum, oder Paul Erich Küppers und später Justus Bier in der 1916 gegründeten Kestner-Gesellschaft boten den wichtigsten Vertretern der europäischen Moderne Arbeits- und Ausstellungsmöglichkeiten. Schwitters‘ Hauptwerk, der Merzbau, entstand hier bis zu seiner Emigration 1937 und wurde 1943 bei einem Bombenangriff zerstört. Die Anfang der 1980er Jahre gefertigte Rekonstruktion dieser ersten begehbaren Raumplastik befindet sich ebenfalls im Sprengel Museum. Obwohl grundlegend verschieden, stellen beide Räume, Kabinett und Merzbau, ein entscheidendes Alleinstellungsmerkmal der hannoverschen Sammlung dar. Die Arbeit einiger Künstler wirkte spürbar in den Alltag hinein: Lissitzky entwarf Werbegrafik für das ortsansässige Unternehmen Günther Wagner (Pelikan), und Schwitters gestaltete bis 1934 als Typograf sämtliche Drucksachen der Provinzhauptstadt. Den hannoverschen Museumsbesuchern geläufige Beispiele erschienen folgerichtig auch in Alexander Dorners Foto-Text-Tafeln zur „Auswirkung der abstrakten Kunst in den Erscheinungen des täglichen Lebens“, die nach 1932 in den Drehvitrinen des Kabinetts der Abstrakten ausgestellt waren.[4]
Gründe für den Nachbau 1968
Wie Ulrich Krempel im jüngst von Annette Tietenberg herausgegebenen Band Ausstellungskopie zu den beiden erwähnten Rekonstruktionen festgestellt hat, ist „Hannovers Teilhabe an der großen Zeit der künstlerischen Moderne [...] in diesen Rekonstruktionen beispielhaft verkörpert. [...] Der kunsthistorische und der lokalhistorische Stellenwert der ursprünglichen Arbeiten sind Gründe für deren Wertschätzung, ebenso wie die Tatsache ihres historischen materiellen Verlustes. Dass beide Werke in der Zeit des Nationalsozialismus zerstört wurden [...] hat einen besonderen Anstoß gegeben, [...] an die großen avantgardistischen Setzungen der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu erinnern.“[5] 1968 stand die lebendige Erinnerung von Zeitzeugen im Vordergrund, die in ihrer Jugend das Kabinett als ersten Künstler-Raum in einem traditionellen Museum erlebt hatten, der der Präsentation der aktuellen Kunst gewidmet war.[6] So entstand beispielsweise der 1962 in der hannoverschen Tagespresse erschienene Leserbrief von Ernst Lüddeckens[7] unter dem Eindruck der Ausstellung „Die zwanziger Jahre in Hannover“[8], wo das Kabinett der Abstrakten in Form von fotografischen Reproduktionen erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder öffentlich präsent war. Sein Beitrag vermittelt neben der zeitgenössischen Wirkung des Raums eine Vorstellung von der in den 1960er-Jahren einsetzenden Fama der „Klassischen Moderne“, in deren kunsthistorischem Diskurs dem Kabinett der Abstrakten bis heute eine Leitfunktion zugeschrieben wird.
Was war das doch für ein Raum! So technisch, so nüchtern, so sachlich er sich zunächst zu geben schien, so sehr er erst befremdete [...] so ungewöhnlich wohltuend umfing er dann den Besucher, je länger er darin verweilte, durch seine Maße, durch seine Lichtabstufungen. In harmonischer, in klassischer Ausgewogenheit waren ikonenhaft die Bildwerke eingeordnet. – Wenn dieser moderne Raum eine solche Wirkung hatte, so heißt das, daß seine Gestaltung von zeitloser Bedeutung war. Und darum: man sollte das Abstrakte Kabinett wiederherstellen! [...] Lissitzkys Schöpfung ist es wert. Für den Museumsleiter Dorner, der emigrieren mußte, wäre es eine Wiedergutmachung und ein letzter Dank.[9]
[1] In seiner Autobiografie von 1941 heißt es: „1926 beginnt meine wichtigste künstlerische Arbeit, die Gestaltung von Ausstellungen“. Zit. nach: Peter Nisbet, Harvard University Art Museum Busch Reisinger Museum/Norbert Nobis, Sprengel Museum Hannover/Peter Romanus, Staatliche Galerie Moritzburg, Halle (Hg.): El Lissitzky. 1890-1941. Retrospektive, Hannover 1988, S. 73.
[2] Vgl. insbesondere Maria Gough: Constructivism Disoriented: El Lissitzky's Dresden and Hannover Demonstrationsräume, in: Nancy Perloff/Brian Reed (Hg.): Situating El Lissitzky. Vitesbk, Berlin, Moscow, Los Angeles 2003, S. 76-125.
[3] Ulrich Krempel: Kurt Schwitters‘ Merzbau und El Lissitzkys Kabinett der Abstrakten. Zwei Rekonstruktionen von zerstörten Räumen der Moderne im Sprengel Museum Hannover, in: Annette Tietenberg (Hg.): Die Ausstellungskopie. Mediales Konstrukt, materielle Rekonstruktion, historische Dekonstruktion, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 115-128, hier S. 118.
[4] Vgl. B 1894, Glasnegativ im Fotoarchiv des Niedersächsischen Landesmuseums.
[5] Ulrich Krempel: Merzbau und Kabinett (Anm. 3), S. 118. Das Kabinett der Abstrakten im Niedersächsischen Landesmuseum wurde im Juli 1937 in Folge der Zerschlagung der Kunst der Moderne durch die Nazis zerstört. Vgl. Ines Katenhusen: Moderne Ästhetik muss zur Selbstveränderung werden. Das Abstrakte Kabinett El Lissitzkys und Alexander Dorners 1926/27 in Hannover, in: Anna Müller/Frauke Möhlmann/Exhibition Design Institute, Fachhochschule Düsseldorf (Hg.) Neue Ausstellungsgestaltung/New Exhibition Design 1900 – 2000, Stuttgart 2014, S. 104-109, hier S. 108.
[6] Vgl. Krempel: Merzbau und Kabinett, (Anm. 3), S. 125.
[7] „Dass ich 1962 mich öffentlich für die Wiedererrichtung des Abstrakten Kabinetts aussprach, entschied der unvergessene Eindruck von diesem Architekturwerk aus der Zeit bis 1936.“ Ernst Lüddeckens, in: Das Abstrakte Kabinett. Hannover Landesgalerie, Hannover, o. J., S. 7. Broschüre zur Eröffnung der Rekonstruktion im Niedersächsischen Landesmuseum 1968.
[8] Kurator war Henning Rischbieter; sie fand 12.8.-30.9.1962 im Kunstverein Hannover statt.
[9] Der Brief erschien prominent mit großer Abbildung am 31.8.1962 in der Hannoverschen Presse und am 20.9.1962 in der HAZ. Originale Artikel im SMH, Akte Lydia Dorner II, Nr. 4.8.3 bzw. 4.
Internationale Kunstausstellung 1926 in Dresden, im Hintergrund: Raum für konstruktive Kunst von El Lissitzky (Bildnachweis: El Lissitzky 1890-1941. Architect, painter, photographer, typographer. Stedelijk van Abbemuseum Eindhoven, Eindhoven 1990)
Beginnen wir mit dem Weg zum Raum. Die Besucher durchschritten lichtdurchflutete Ausstellungsräume, um zu einem verdunkelten Eckraum zu gelangen. Die Aufnahme (Abb. 1) zeigt an, dass zunächst eine Abfolge von dicht gehängten Gemälden unterschiedlichen Formats und unterschiedlicher Rahmung nebst Standpodesten mit Kleinskulpturen passiert werden musste, bevor man in Lissitzkys Raum gelangte. Farbkräftige Bildsprache mit expressivem Pinselduktus waren die Merkmale dieser den Weg in Lissitzkys Raum flankierenden Bildwerke, die ihre handwerkliche Herstellung überdeutlich ausstellten. In der Zielgeraden, so suggeriert es die Fotografie, hatten die Besucher noch statische Hochformate im Blick, während sie bereits auf eine ungerahmte Kreisscheibe in einem schon von weitem sichtbaren abgedunkelten Raum zusteuerten. Die Unausweichlichkeit dieser Begegnung ist offenkundig und beabsichtigt.
El Lissitzky, Raum für konstruktive Kunst auf der Internationalen Kunstausstellung 1926 in Dresden, Raumdetail Lissitzky (Bildnachweis: El Lissitzky 1890-1941. Architect, painter, photographer, typographer. Stedelijk van Abbemuseum Eindhoven, Eindhoven 1990)
Die Besucher sahen sich gleich mit zwei extra für die Ausstellung hergestellten Bildwerken des Raumerfinders Lissitzky konfrontiert (Abb. 2). Die Scheibe in der Mitte (in der Abbildung rechts) zeigt eine Bildsprache, die von den Anfängen Lissitzkys um 1920 bekannt ist, links davon ziert eine Fotografie die Wand: Lissitzkys Hand mit Zirkel. Nicht nur die Fotografie ist programmatisch, sondern auch das runde Kunstwerk, auf dessen Rückseite folgende handschriftliche Notiz zu lesen ist: ‚Proun ist die Umsteigestation von Malerei zu Architektur’.[1] Ist auch diese Notiz für die Besucher nicht sichtbar, so wird doch für den Fachkundigen und spätestens für die Avantgardisten-Kollegen angesichts der Motive und Platzierung der Werke deutlich, dass Lissitzky offenbar eine Art Signatur, eine Art demonstrativen Hinweis auf die Autorschaft der Raumgestaltung vorgenommen hatte. Solcherlei demonstrative Akte waren aus Sicht Lissitzkys wichtig, sah er sich doch erklärtermaßen in Konkurrenz zu den deutschen und niederländischen Avantgardisten.[2]
Doch zurück zu den Ausstellungsbesuchern: Betraten diese Lissitzkys Raum, erfuhren sie eine schlagartige Umkehrung der Lichtverhältnisse. Die Wände waren in dunklen Tönen gehalten, während von der Decke blaues und gelbes Licht – gestreut durch einen Gaze-Stoff - einfiel.[3] Nur vereinzelt waren Kunstwerke gehängt, allenfalls in einer Geometrisierung, wie man sie aus dem 19. Jahrhundert im Pendantsystem oder von den Stilräumen her kennt. In den Ecken hatte Lissitzky spezielle Wandvitrinen installiert. Wandübergreifend boten diese Platz für maximal drei Exponate, wobei die Besucher mittels eines verschiebbaren Lochblechs eine individuelle Auswahl zur Betrachtung vornehmen konnten. Vorhang und Wandbeleuchtung legen die Vermutung nahe, dass Lissitzky seinen Raum von den anderen abzugrenzen suchte. Ein Grund hierfür könnte die konservative Ausrichtung des Ausstellungskonzepts von Hans Posse gewesen sein, der einen Wettstreit der Nationen inszenierte und dabei der deutschen Kunst den größten Raum zur Darstellung bot.[4] Die Konstruktion in der Mitte des Raumes sollte die Laufrichtung andeuten und diente zugleich als Referenz an die Plastiken der Gebrüder Sterenberg, wie sie bereits 1922 auf der 1. Russischen Kunstausstellung zu sehen waren. Verließen die Besucher Lissitzkys Raum, so gelangten sie in einen Raum mit Erholungsfunktion, in dem keine Bildwerke ausgestellt waren.
Die bekannten Fotodokumente aus Lissitzkys Hand zeigen drei Blickwinkel, aus denen der Raum aufgenommen wurde. Eine vierte Ecksituation bleibt unbekannt. Die Lichtregie machte offenkundig ein Abschirmen von den benachbarten Räumen erforderlich: Weiße, wohl schwere Stoffvorhänge wurden in den breiten Durchgängen der Ausstellungsarchitektur gehängt und konnten nach Belieben zugezogen werden. Nicht zuletzt die Wandbehandlung sorgte für eine besondere Raumwirkung: Lissitzky hatte schmale, vergleichsweise tiefe Holzleisten vor die Wände montiert, und deren Seiten im Wechsel schwarz und weiß bemalt, während die Wand durchgängig in einem Grauton gehalten wurde.[5] Durchschritten die Besucher den Raum, veränderte die Wand je nach Standpunkt ihre Farbe. Lissitzky hoffte, durch dieses in der Bewegung unmittelbar erfahrbare Prinzip die Betrachter im Raum aktiv werden zu lassen.
Bereits 1923 beschrieb Lissitzky in seinem Vortrag Neue russische Kunst einen Bühnenvorhang, der der späteren Wandgestaltung des Dresdner Raumes sehr nahekam. Lissitzky notierte:
[1] Kai-Uwe Hemken: Für die Stimme und für das Auge. Zur Ästhetik des Buches 'Für die Stimme' von El Lissitzky. in: Patricia Railing (Hg.): El Lissitzky 'Für die Stimme’, Reprint und Kommentarband, East Sussex/Cambridge 1994, S. 95-102.
[2] Vgl. hierzu Kai-Uwe Hemken: Pan-Europe and German Art. El Lissitzky at the 1926 Internationale Kunstausstellung in Dresden, in: El Lissitzky 1890 – 1941. Architect – Painter – Photographer - Typographer. Ausst.-Kat. Stedelijk Van Abbemuseum, Eindhoven 1990, S. 46 -55.
[3] Die Beschreibung folgt Lissitzkys nachträglichen Ausführungen zum Raum: El Lissitzky: Demonstrationsräume, in: Sophie Lissitzky-Küppers (Hg.) El Lissitzky. Maler – Architekt – Typograf – Fotograf. Erinnerungen, Briefe, Schriften, Dresden 1976, S. 362-363.
[4] Vgl. hierzu Hemken: Pan-Europe and German Art (Anm. 2).
[5] Der Grauton der Wand geht wohl auf Tessenow zurück, der in anderen Räumen der Kunstausstellung einen ähnlichen Farbton für die Wände wählte.
[6] El Lissitzky: Neue Russische Kunst, in: Sophie Lissitzky-Küppers (Hg.) El Lissitzky. Maler – Architekt – Typograf – Fotograf. Erinnerungen, Briefe, Schriften, Dresden 1976, S. 339.
[7] Die Subordination ist übrigens auch bei Lissitzkys Prounenraum das grundlegende Konzept gewesen.
[8] El Lissitzky: K. und Pangeometrie, in: Sophie Lissitzky-Küppers (Hg.) El Lissitzky. Maler – Architekt – Typograf – Fotograf. Erinnerungen, Briefe, Schriften, Dresden 1976, S. 349-354.
Interessant ist die letzte Arbeit der Konstruktivisten, der Gebrüder Sterenberg und Medunezki, die eine neue Erfindung für die Bühnengestaltung ist. Sie konstruierten einen Vorhang aus vertikalen Holzleisten (jalousieartig), der sich beim Öffnen teilte, sich halbkreisförmig zurückschob und den Hintergrund bildete. Die Flächen wurden nicht bemalt, sondern nach Bedarf durch farbige Lichtquellen beleuchtet.[6]
Die psycho-sensorische Aktivität, die durch die Wandfarben hergestellt wurde, sollte sich auf die Wandvitrinen übertragen, deren Lochbleche nun zu bedienen waren. Während in den anderen Räumen eine Subordination vorherrschte, die jedes Bildwerk graduierte und als verschieden gewichtetes Teil eines kuratorischen Gesamtkonzeptes verstand, offerierte Lissitzky in seinem Raum mit der Hängung der Werke eine Koordination, das heißt alle Exponate waren gleichrangig.[7]
Aus Sicht des Architekten Lissitzky war die besondere Wandbehandlung die Konsequenz aus einem Streben nach Entmaterialisierung im Sinne des Neuen Bauens. Seit 1924 war Lissitzky insbesondere mit seinem Projekt des Wolkenbügels beschäftigt und hatte im Zuge dessen engste Verbindungen zu namhaften Architekten wie J. J. P. Oud. Die psycho-sensorische Wirkung der wechselnden Wandfarbe führte bei einer Beschleunigung der Bewegung zu einem flirrenden Effekt, der imaginativ die Materialität der Wände aufzulösen schien. Diesen Effekt hatte Lissitzky in seinem 1925 erschienen Aufsatz K. und Pangeometrie[8] beschrieben und hierbei unter der Bezeichnung ‚Imaginärer Raum’ Rotationskörper abgebildet. Der Konstruktivist verwies in diesem Zusammenhang auf die Unzulänglichkeit der menschlichen Wahrnehmung, die außerstande sei, die Bewegung schnell rotierender Körper einzeln zu sehen. Diesen ‚Propellereffekt’ hat auch Naum Gabo 1919/20 mit seinem sogenannten virtuellen Volumen veranschaulicht: Ein vertikaler Metallstab wird von einem Motor in schnelle Bewegung versetzt, die der Betrachter mit dem bloßen Auge nicht auflösen kann. In der Folge entsteht eine immaterielle Form.
Dieser Aspekt wirft die Möglichkeit einer weitergehenden Interpretation auf, die auch Lissitzkys Analysen zur zeitgemäßen Wahrnehmung, zu den neuen Medien Film und Fotografie, sowie seine Raumvorstellungen in den Blick nimmt Etwa zur gleichen Zeit als Lissitzky den Raum der konstruktiven Kunst vorbereitete, war das Kino, d.h. waren der Film und das Foto die zentralen Medien nicht nur der städtischen Öffentlichkeit, sondern durchzogen als Leitmedien um die Mitte der 1920er Jahre herum auch Lissitzkys eigene Projekte.
El Lissitzky, Hans Arp (Hrsg.): Die Kunstismen 1914 – 1924, Zürich 1925, Doppelseite mit Vikking Eggeling und Hans Richter (Bildnachweis: Archiv des Autors)
In den Kunstismen[9] (Abb. 3) zieht Lissitzky nicht nur Bilanz die Avantgarde-Szene betreffend (und dies bisweilen mit einer gewissen Bissigkeit), sondern proklamiert den Film und das Foto als zukunftsweisende Medien in der Kunst. Er hatte zeitgleich Kontakt zum Experimentalfilmer Viking Eggeling, mit dem er ein gemeinsames Kunstprojekt starten wollte, wie er sich in seinem Nachruf auf Eggeling erinnerte: Es ging nicht nur darum, einen neuartigen Film zu realisieren, den es auf die Leinwand zu projizieren galt, sondern die Projektions-Lichtstrahlen selbst als Zielpunkt und Material der künstlerischen Produktion zu verstehen. Als Architekt arbeitete er 1924 an der sogenannten Lenintribüne, die nicht von einem Rednerbalkon bekrönt werden sollte, sondern von einer monumentalen Kinoleinwand, die als Frühform des modernen public viewing die zentralen politischen Losungen unter die Leute bringen sollte. Und nicht zuletzt arbeitete Lissitzky an der erklärtermaßen mühevollen Übersetzung der Schriften seines Ziehvaters Kasimir Malewitsch vom Russischen ins Deutsche. Dies mag in unserem Zusammenhang eine Randnotiz sein, doch ist die inhaltliche Auseinandersetzung mit der suprematistischen Wirkungsästhetik eine wichtige Grundierung des Dresdner Raumes.
Doch der Reihe nach. Die menschliche Wahrnehmung scheint der Dreh- und Angelpunkt von Lissitzkys Raumkonzept gewesen zu sein. Neben dem erwähnten Aufsatz K. und Pangeometrie hatte sich Lissitzkys Auseinandersetzung mit Fragen der Rezeption zunächst in der Typografie abgespielt. Bereits 1922 schrieb er in seinem Text Topografie der Typografie von dem Primat der Optik; als Gestaltungsmaxime ist dort von einem ‚bioskopischen Buch’ die Rede. Diese Bezeichnung ist für Lissitzkys Vokabular vor- und nachher eine Ausnahme, jedoch nicht für seine künstlerischen Reflexionsweise. Bereits in der Proun-Phase rief er Theorien der Mathematik und Physik als Paten seiner neuen Kunst auf. Die Namen Minkowski, Lobatschewski und Einstein fallen. Es sei daher erlaubt, den Blick auf zeitgenössische Wissenschafts- und Kulturentwicklungen zu werfen, um dem ‘bioskopischen Buch’ auf die Schliche zu kommen. Die Wahrnehmungspsychologie von Max Wertheimer ist hier von Relevanz. Wertheimer hielt sich seit 1920 in Berlin auf, nachdem er seine Forschungen zur menschlichen Wahrnehmung bereits in den 1910er Jahren in Frankfurt am Main begonnen hatte. Es ist erwiesen, dass seine Berliner Vorlesungen insbesondere von linksorientierten osteuropäischen Studenten besucht wurden, die zum Teil für Carl von Ossietzky arbeiteten.[10] Dieser historische Umstand lässt vermuten, dass Wertheimers Entdeckungen und Versuchsreihen Gegenstand der Diskussionen in den zahlreichen Zusammenkünften in Cafés oder Ateliers des Russischen Viertels in Berlin um 1922 gewesen sind. Er erscheint zumindest denkbar, dass auch Lissitzky auf diesem Wege Kenntnis von den Ansichten des Wahrnehmungspsychologen erhalten hat.
[9] El Lissitzky/Hans Arp (Hg.): Die Kunstismen 1914-1924, Zürich 1925.
[10] Vgl. Lothar Sprung/Helga Sprung: Zur Geschichte der Psychologie an der Berliner Universität II (1922-1935). In: Psychologie für die Praxis. 14.1987, H.3, S. 293-306.
nach: Max Wertheimer: Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, I. Abteilung: Zeitschrift für Psychologie 61/1 (April 1912), S. 183. (Bildnachweis: Archiv des Autors)
In unzähligen Versuchsreihen analysierte Wertheimer die Bedingungen und Möglichkeiten des menschlichen Sehens.[11] Er entdeckte sogenannte Schein- oder Phi-Phänomene (Abb. 4). Damit wurden Ereignisse bezeichnet, die sich nicht real, sondern nur in der Vorstellung abspielen. Wertheimer setzte die Versuchspersonen vor Seh-Apparate, sogenannte Stroboskope und Tachistoskope, und provozierte besondere Seh-Erfahrungen: Vor einem neutralen weißen Hintergrund zeigte er am Rande des Bildfeldes eine schwarze Vertikale. Danach das gleiche Verfahren, allerdings mit einer Horizontalen. Nach mehrfacher und rascher Wiederholung dieses Versuchs schilderten die Betrachter ähnliche Phänomene: Die beiden Linien liefen um einen Scheitelpunkt aufeinander zu. Wertheimer traf die Unterscheidung zwischen zwei Formen der Realität: 1. die haptische tatsächliche Wirklichkeit und 2. die optische Scheinrealität.
Für unseren Zusammenhang sind die folgenden Versuchsergebnisse Wertheimers von Relevanz,
Mit diesen Forschungen lag nun ein Beweis für die Wirksamkeit jener Experimente vor, die Malewitsch mit seiner suprematistischen Bildsprache und Lissitzky mit seiner Balken- und Linientypografie im künstlerischen und gestalterischen Feld durchgeführt hatten. Der Suprematist sprach von einer Dynamisierung der Bildfläche und von dem Erfahrungszustand der ‚Erregung’, die schließlich Zugang zum Kosmos ermöglichen sollte. Wertheimers Entdeckungen belegen diese Annahme, doch entledigen diese Malewitschs Bildkonzept von allen spirituellen Dimensionen. Lissitzky konnte nun diesseits des Kosmischen und Göttlichen seine elementare Typografie entwickeln, wie er sie 1922 in dem Buch Für die Stimme verwirklichte.[12]
Im Dresdner Raum liegen uns keine Horizontalen und Vertikalen auf weißem Grund vor, die in einem rhythmischen Wechsel erscheinen. Doch werden mit dem Wechsel von Nicht-Farben offenbar die beschriebene Dynamisierung der Wandfläche und schließlich die Scheinrealität in Form einer Entmaterialisierung der Wand erzeugt.
Auch wenn Wertheimer Tachistoskope und Stroboskope verwendet hatte, klärt dies noch nicht den Begriff ‚Bioskop’, wie Lissitzky ihn in Topografie der Typografie auf das Buch angewandt hatte. Das Bioskop ist auf die Gebrüder Skladanowsky zurückzuführen, die in Berlin um 1900 herum das sogenannte Duplex-Verfahren erfunden, als ‚Weltsensation’ deklariert und im Tivoli einem staunenden Publikum zur Anschauung gebracht hatten. Es handelte sich um eine neue Technik der Filmvorführung, die es erstmals erlaubte, Filme ohne Flimmern und ohne Schwarzbilder zu zeigen. Ohne weiter auf diese neue Filmvorführtechnik einzugehen, scheint es in Anbetracht dieser begrifflichen wie inhaltlichen Nachbarschaft geboten, den Dresdenraum dezidiert in Bezug auf Lissitzkys Überlegungen zu Fotografie und Film zu interpretieren.
Bei der Vorstellung, den Dresdner Raum von den hell erleuchteten Ausstellungsräumen her zu betreten, stellt sich in zeitgenössischer, retrospektiver Betrachtung als erstes die Assoziation eines verdunkelten Filmvorführsaales ein.
Lissitzky musste die Lichtzufuhr steuern, damit das Farbenspiel an den Wänden überhaupt funktionieren konnte. Doch seine zeitgenössischen Hinweise auf eine Aktivierung des Sehvorgangs und sein Interesse für das Leitmedium Film lassen vermuten, dass sich Lissitzky an der besonderen Art der Seherfahrung im Kino orientierte: Die Suggestionskraft des Filmes, die auf dem Unvermögen der menschlichen Wahrnehmung aufbaut, war Ausgangspunkt einer Gestaltung, die einen imaginären Raum, eine Scheinrealität herstellt. Hierbei waren das Filmbild, die im Film gezeigte Geschichte und das Drehbuch jedoch ausgeblendet. Lissitzky konzentrierte sich offenbar auf den sogenannten ‚haptischen Raum’. Durch die Lichtregie des Films und hier durch die Lichtregie und optischen Effekte der Wand wird eine bestimmte Seherfahrung erzeugt, die den Raum als Scheinrealität, als dynamisiert wahrnehmen lässt. Mit dieser Sehmanipulation wird der Ausstellungsbesucher in besonderer Weise konditioniert, die Exponate wahrzunehmen.
[11] Die ersten Abhandlungen ‘Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung’ sowie ‘Über das Denken der Naturvölker, Zahlen und Zahlgebilde’ publizierte Wertheimer bereits 1911/12 in der Zeitschrift für Psychologie. Gemeinsam mit der Studie ‘Über Schlussprozesse im produktiven Denken’ wurden diese Forschungsergebnisse unter dem Titel Drei Abhandlungen zur Gestalttheorie 1925 in Erlangen veröffentlicht.
[12] Auf einem Zwischenblatt druckte er alleinstehend eine seltsame Grafik ab: In einem stilisierten menschlichen Auge sind Buchstaben und ein Quadrat zu sehen: „Ich liebe das Quadrat“ ist die Geheimbotschaft, womit Lissitzky die enge Verbindung des Suprematismus mit der Optik herstellt.
El Lissitzky, Schau Kabinet Hannover Museum[Entwürfe zum Kabinett der Abstrakten], 1926/27. , Aquarell, Farbstift, Bleistift auf Karton. (Bildnachweis: Sprengel Museum Hannover, Herling/Gwose)
Mit dieser Sinnes- und Geistesaktivierung antwortet Lissitzky auf eine öffentliche Kritik, die bereits im 19. Jahrhundert laut wurde und die er selbst in seinem Begleittext zu seinen Demonstrationsräumen vorträgt: Er geißelt darin die Überfülle und die monotone Präsentation der Exponate, die den Besucher ermüdete. Lissitzky entwickelte offenbar eine neue Art der Kunstpräsentation, indem er neue Erkenntnisse der Wahrnehmungspsychologie und neue Technikinnovationen in Referenz zu deren massenmedialen Einsatz modifiziert auf das Ausstellungsdesign übertrug (Abb. 5). Ganz im Sinne der Selbstinszenierung Lissitzkys als transmedial arbeitender Künstler handelt es sich dem Raum für Dresden gewissermaßen um den Kinoraum eines Architekten und Typografen, der, der zur optimierten, d.h. massenmedial geprägten Betrachtung abstrakter Kunst dienen sollte.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Raum für konstruktive Kunst auf der Internationalen Kunstausstellung in Dresden ist eine künstlerische Raumgestaltung zur psycho-sensorischen Stimulation des Kunstbetrachters. Die vielbeschworene Partizipation beschränkt sich auf eine körperlich-neuronale Aktivierung des Besuchers, wie sie das Kino mit seiner Suggestionskraft bereits erreicht hatte. Eine Teilhabe auf gleicher Augenhöhe mit dem Künstler oder Kurator kann nicht festgestellt werden.
Impulse mag die Wandgestaltung von Lamellenbildern erfahren haben, wie sie aus früheren kunsthistorischen Epochen bekannt sind, doch die entscheidenden Faktoren, die zur Raumgestaltung geführt haben, sind in Lissitzkys systematischer Auseinandersetzung mit der menschlichen Wahrnehmung und den Leitmedien Film und Foto zu suchen. Lissitzky setzte vermutlich jene Ideen um, die er mit Viking Eggeling als Modulation des Projektionslichtes beschrieb. Der Dresdner Raum wäre demnach ein verdunkelter Vorführraum, ohne dass die Projektion eines Filmes zu sehen gewesen wäre. Trotz dieser Anleihen am Kinodispositiv bestand das erklärte Ziel in der Aktivierung des Betrachters, dessen Partizipation, wie Lissitzky sie zeitgleich zum Dresdner Raum für das Theater einforderte:
Auch bei uns spielt das neueste Theater bis jetzt im guckkastenartigen Bühnenhaus, und das Publikum ist im Parkett, in Logen und Rängen vor dem Vorhang untergebracht. Die Bühne ist gestorben. In demselben Guckkasten ist ein dreidimensionaler körperlicher Raum geboren worden zur maximalen Entfaltung der vierten Dimension, der lebendigen Bewegung. Dieses neugeborene Theater sprengt den alten Theaterbau.[13]
[13] El Lissitzky: Unser Buch, in: Sophie Lissitzky-Küppers (Hg.) El Lissitzky. Maler – Architekt – Typograf – Fotograf. Erinnerungen, Briefe, Schriften, Dresden 1976, S. 360.