Anda/Bialek/Durka/Karpisek/Pohlmann/Sack
Bei El Lissitzkys Kabinett der Abstrakten handelt es sich um ein in vielerlei Hinsicht komplexes künstlerisches[1] Werk, da es nicht nur von seiner geschichtlichen Bedeutung zum Zeitpunkt seiner Einrichtung her erfasst werden kann, sondern stets auch vor dem Hintergrund der historischen Wandlungen bewertet werden muss, der es sowohl in Bezug auf seine materielle Realität als auch auf seine Wahrnehmung bis heute ausgesetzt war und ist.
Lissitzky entwickelte das von ihm als “Demonstrationsraum”[2] betitelte Display zur Präsentation abstrakter Kunst mit dem Ziel, tradierte Wahrnehmungsmechanismen im Museumsraum zu verändern. Das starre Verhältnis von Institution, Kunst(werk) und Betracher*in sollte durch buchstäbliche Eingriffe in dieses Gefüge eine (kultur-)politische Verschiebung bewirken. Nicht nur die Kunstwerke selbst, sondern auch die Bedingungen, zu denen ausgestellt wurde, sollten sichtbar werden. Die ästhetische Erfahrung und die Möglichkeiten der Interaktion, wie sie von den Besucher*innen im ursprünglichen Raum wahrgenommen werden konnten, werden uns heute auf zwei verschiedene Arten vermittelt: durch die Museumspräsentation der Rekonstruktion des Kabinetts, wie sie im Sprengel Museum Hannover zu sehen ist (Abb. 1), und durch die Fotografien der ersten Version aus den Jahren 1928 bis 1934 (Abb. 2). Das Kabinett wurde 1937 durch die Nazis zerstört und erst 1968, 30 Jahre später, im Niedersächsischen Landesmuseum rekonstruiert, um dann mit Eröffnung des Sprengel Museums 1979 in den Museumsbau am Maschsee zu ziehen. Was wir heute noch im Museum sehen und erleben können, ist also eine Nachbildung[3] des Kabinetts der Abstrakten. Die Fotografien zum Kabinett, die im Archiv des Sprengel Museums verwahrt werden, vermitteln dagegen alle drei Zustände des Raumes an seinen verschiedenen Standorten. Die Bilder zeichnen damit sowohl sein Bestehen in unterschiedlichen Versionen als auch seine durch die Rekonstruktionen bedingten Veränderungen visuell nach. Gleichzeitig schaffen sie darin immer einen spezifisch fotografisch vermittelten Blick auf dieses Werk. An diesem Konvolut lässt sich von daher auch die Veränderung des Mediums der Fotografie von 1928 bis heute ablesen.
Den Ausgangspunkt der Konzeption der Ausstellung als digitale Anwendung bilden historische und aktuelle Fotografien des Kabinetts der Abstrakten. Diese Abbilder sicherten das physische Fortbestehen des Raums: zunächst als Bildobjekte im Archiv und schließlich, indem sie als Nachbilder zu Vorbildern für Rekonstruktionen sowie künstlerische und kuratorische Referenzen wurden. Das Projekt macht den Faktor des Fotografischen in der Geschichte und Geschichtsschreibung zum Kabinett der Abstrakten deutlich. Dabei ist es weniger die Materialität der archivarischen Fotografien, die für uns in diesem Zusammenhang von Interesse ist. Vielmehr richten wir das Augenmerk darauf, dass es gerade die vom ursprünglichen Bildträger abgelöste Proliferation dieser Bilder in anderen Medien war (und ist), die die Rezeption des Kabinetts geprägt und dessen Rekonstruktionen informiert hat. Im Vergleich zwischen einer Aufnahme des Erstzustandes sowie einer Fotografie der Rekonstruktion, wie sie bis Ende 2016 im Sprengel Museum präsentiert wurde, wird die fotografische historische Überlieferung gewissermaßen kurzgeschlossen: Über die ursprüngliche Gestalt des Kabinetts geben im Wesentlichen Schwarz-Weiß-Fotografien Aufschluss, abgesehen von einigen früheren kolorierten Konstruktionszeichnungen El Lissitzkys. Da es sich anhand der vorliegenden Schwarz-Weiß-Aufnahmen nicht ermitteln ließ,[4] ob die in den Zeichnungen in Rot- und Blau-Grautönen skizzierten Raumelemente auch in der baulichen Umsetzung farbig ausgeführt wurden, war der Nachbau 1968 in Anlehnung an das fotografische Material in verschiedenen Grautönen gestaltet worden. Diese wurden auch nach dem Umzug ins Sprengel Museum 1979 beibehalten, wo die Rekonstruktion bis Ende 2016 in diesem Zustand als Teil der Dauerausstellung gezeigt wurde.[5]
Welche Rolle kommt diesen Fotografien zu, die nicht nur die fragmentierte Geschichte des Kabinetts in sich tragen, sondern an sich auch die Entwicklung des fotografischen Mediums sichtbar werden lassen?[6]
Das virtuelle Ausstellungsprojekt demonstrationsraum nimmt die fragmentierte Geschichte des Kabinetts der Abstrakten, wie sie anhand der Fotografien vermittelt wird, in den Fokus, und diese Verschiebung des Erkenntnisinteresses macht sie gleichzeitig zur Methode der Reflexion und Vermittlung. Lissitzkys Intention von einer Aktivierung der (Kunst-)Betrachter*innen im Museum wird dabei aufgegriffen und mithilfe der Medientechnologie in Form einer Augmented-Reality-Anwendung in ein virtuelles Ausstellungsprojekt übersetzt, die das Kabinett in seiner historisch gewachsenen Komplexität – zwischen individuellem Seh-Erlebnis und Institutionsgeschichte, zwischen ephemerem Ereignis und auratischem Kunstobjekt – als einen aktuellen Schauplatz von (Kunst-)Geschichte für heutige Nutzer*innen vermittels einer App für iPads erfahrbar werden lässt. Die Bilder in der App sollten nicht durch Immersionseffekte Kontinuität suggerieren, wo keine ist. Vielmehr sollten sie die medienspezifische Perspektive auf das Werk, durch die es sowohl wiedergegeben als auch konstruiert wird, durch einem dezidierten Einsatz in der App vermitteln, und so sowohl die Geschichte des Raumes als auch die des technologischen Dispositivs, das zu seiner Dokumentation herangezogen wurde, gerade in ihrer Fragmentiertheit erfahrbar machen.[7] Der App kommt also die Funktion zu, sowohl in Bezug auf das Kabinett als auch in Bezug auf den hier gewählten Modus des Zu-Sehen-Gebens die Bedingungen des Ausstellens und des Wahrnehmens stets gemeinsam mit dem Ausgestellten zu reflektieren – wie Lissitzky dies bereits für den Dresdner Vorläuferraum zum Kabinett der Abstrakten gefordert hatte.[8] Der Anschluss an Lissitzkys Bestrebungen, mit der Augmented-Reality-Anwendung einen “Demonstrationsraum” oder “Ausstellungs-Schau-Raum”[9] zu schaffen, wird auch auf begrifflicher Ebene vollzogen, wie am Namen der hier vorgestellten Anwendung ersichtlich wird.[10]
Aura-Politiken
Der im Vergleich der beiden Fotografien (Abb. 1 und 2) zum Vorschein tretende Kurzschluss zwischen Reproduktionstechniken (hier: der Fotografie) und dingweltlicher Erscheinung (hier: der Gestalt des Kabinetts in seiner heutigen Form) verweist auf einen Begriff, der etwa zeitgleich zur Einrichtung des Kabinetts in Bezug auf das fotografische Dispositiv geprägt worden ist: auf jenen der Aura.[11] Während Lissitzkys Konzeption einerseits als Strategie zur Ent-Auratisierung des Werks gelesen werden kann, da dieses durch die Beteiligung der Betrachter*innen an der Gestaltung ihres eigenen Wahrnehmungsprozesses aus einer überzeitlichen Ferne in eine zeit- und erfahrungsspezifische Nähe überführt wird, bedarf dieser Effekt der Aura-Ablösung ausgerechnet der Immersion der Betrachter*innen in das Kabinett selbst, wodurch die Wahrnehmung des*der Einzelnen ent-kollektiviert wird – und damit auratisch aufgeladen. Als radikal zeitgenössische Ausnahme einer ansonsten der Zeit scheinbar enthobenen Sphäre setzt das Kabinett der Abstrakten als Dispositiv der Aura-Ablösung die überzeitliche Geltung der Institution Museum voraus und bestätigt sie in ihrer Funktion. Die Fotografie, mit ihrer Rolle in der Rekonstruktionsgeschichte des Raumes, fügt diesem ohnehin bereits widersprüchlichen Gefüge noch eine weitere Wendung hinzu: Ausgerechnet das Medium der Aura-Ablösung schlechthin, so scheint es, wird hier für eine Aufladung des fotografisch dokumentierten Raumes mit Ursprünglichkeit in Stellung gebracht. Oder anders: Je weiter wir uns zeitlich vom ursprünglichen Zustand des Kabinetts entfernen, desto bedeutsamer wird die Rolle der Fotografie in der Rekonstruktion des Raumes; zugleich wird er mit jeder Rekonstruktion weiter in den Bereich eines Gesamtkunstwerks verschoben.[12]
Wir halten also zunächst fest: Der Ausstellungsraum ist zum Werk geworden, aber eben nicht der ursprüngliche Raum im Sinne eines unwiederholbaren Originals im Museum, sondern seine Rekonstruktionen. Die Autor*innen (und Neuschöpfer*innen) des Kabinetts der Abstrakten von heute sind Kunsthistoriker*innen, deren interpretative Re-Konstruktions-Arbeit sich auf Fotografien und Zeichnungen stützt – und in diese Gruppe sind auch wir einbegriffen. Das Kabinett der Abstrakten ist damit auch ein Sinnbild und Spiegel für die Manifestation der Kunstgeschichtsschreibung im Museum.
Leisten wir durch das Projekt also eventuell auch jener von Lissitzky identifizierten Tendenz Vorschub, das Museum in einen “Sarg”, ein “Wohnzimmer für Bilder” zu verwandeln?[13] Wäre damit der demonstrationsraum letztlich bloß eine virtuelle Außenstelle des Mausoleums, das Adorno in mehr als nur phonetischer Hinsicht mit dem modernen Museum assoziiert?[14]
Eine Bemerkung von Annette Tietenberg, die bereits vor mehr als 15 Jahren auf die wechselseitige Durchdringung von (kunst-)wissenschaftlicher Epistemologie und dem historischen Entwicklungsstand der Reproduktionstechniken hingewiesen hat, gemahnt auch im Zeitalter der umfassenden Digitalisierung musealer Sammlungs-, Forschungs- und Vermittlungstätigkeit einer aufrichtigen Reflexion der Verstrickung der eigenen Forscher*innenrolle im Dickicht der Reproduzierbarkeit. Auf die Position bezogen, von der Walter Benjamin aus seine Theorie formulieren konnte, schreibt sie:
Wenn Walter Benjamin seine These von der ‚Enthistorisierung’ des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit entfaltet, so legt er seiner Analyse also nicht nur das Paradigma Hegelscher ‚Historizität’ zugrunde, das in der Kunstwissenschaft erst in Folge der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks Einzug hielt. Er faßt auch unter dem Begriff der ‚Aura’ all jene Aspekte zusammen, die für einen Kunsthistoriker, der sich der historisch-kritischen Methode bediente, bei der Unterscheidung von Original und Kopie relevant geworden waren: materielle Altersspuren, die Provenienz eines Kunstwerks und die Bestätigung seiner Echtheit. So wirft auch Benjamin einen ‚klinischen Blick’ auf das Kunstwerk und verkennt dabei, daß die Aura dialektisch an die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks gebunden ist. Die Reproduktionstechnik löst das Reproduzierte eben nicht aus dem Bereich der Tradition. Sie erlaubt es dem bildmächtig gewordenen Wissenschaftler, Traditionslinien zu konstruieren und auf Echtheit zu beharren.[15]
Wird damit aber nicht letztlich die*der Wissenschaftler*in nicht nur Agent*in, sondern regelrecht zur Träger*in der Aura, springt diese also von den allseitig reproduzierbar gewordenen Kunstwerken nun auf die Historiker*innen in ihrer Leiblichkeit über? Man könnte versucht sein, hierzu exemplarisch bereits auf die Rolle Dorners in der kunsthistorischen Einbettung seiner eigenen Praxis (wie sie in seinem Aufsatz in ‘Die Form’ von 1928 zum Ausdruck kommt)[16] zu verweisen, oder auf den heute um die Figur des Kurators (im Allgemeinen, sowie Dorners im Speziellen) betriebenen Personenkult – als ob die Unhintergehbarkeit des Materials/der Körperlichkeit nun eben woanders gesucht würde. Wo sich diese nicht personifizieren lässt, so scheint es, springt die Institution Museum mit ihren Authentifizierungsstrategien ein. Wie verhalten sich nun der durch unser Projekt aufgerufene virtuelle Körper und der virtuelle Raum zu dieser Körperlichkeit oder Räumlichkeit von Aura?
Wie Maria Gough betont, arbeitete Lissitzky mit seinem Prototyp des Demonstrationsraums gegen die Anästhesie des*der Besucher*in, die*der vor den ‚roaring beasts’[17] traditioneller Ausstellungsdisplays mit den sich unterordnenden Wänden in ehrfurchtsvoller Erstarrung verharrt. Sie schlägt vor, eine konzeptuelle Differenzierung zwischen Alexander Dorners Stimmungsraumodell und Lissitzkys Demonstrationsraum-Konzept vorzunehmen: Während ersteres im Sinne eines Gesamtkunstwerks interpretierbar wäre, kommt Lissitzkys Demonstrationsräumen das Verdienst zu, einer genuinen politischen Aktivierung der Besucher*innen zuzuarbeiten und zwar durch fortwährende Neuperspektivierung, bei der an eine Phase der Desorientierung eine neue – auch körperliche – Verortung im Raum anschließt. Dziga Vertov, der das Kabinett 1929 besucht hat, berichtet (in einem Brief an Lissitzky) von einer gewissen körperlichen Desorientierung, die ihn zum ‚Tasten’, ‚Begrapschen’, Untersuchen, also dem Inspizieren der Raumelemente veranlasst habe.[18] Desorientiert und gleichsam aktiviert wird die*der Besucher*in durch jene optische Dynamik, die nicht zuletzt durch die zwischen schwarz-weiß und grau changierende Lamellenkonstruktion an der Wand vermittelt wird. Diese generiert eine Art Flicker-Effekt der auch in der Rekonstruktion noch nachvollzogen werden kann. Für eine gewisse notwendige Blick- und Körperlenkung war durch das horizontal und vertikal geplante Leitsystem dennoch gesorgt. Zumindest in Lissitzkys Originalkonzept waren nicht zuletzt die zwei über Eck liegenden Raumzugänge entscheidend für den Verlauf der Leisten (die auch horizontal und vertikal über die Kassettenkonstruktionen geführt wurden). Cornelia Oßwald-Hoffmann schreibt etwa: „Nach den Plänen sollte die Bodenleiste leuchtend rot gestrichen werden, so daß sie eine massive Kraft in den Raum gebracht hätte, die den Blick stark nach rechts ‘gezogen’ hätte.“[19] Der Beleuchtungskörper, ausrichtbare Papier- oder Stoffblenden und die drehbaren Vitrinen (mit Informationsmaterial) wären innerhalb dieser Führungslinie als Elemente der vierten Wand begreifbar.
Die Auflistung dieser gleichsam disziplinierenden Elemente gibt Aufschluss über die Dialektik von Freiheit und Zwang, die diesem Ausstellungsdispositiv eignet. Die von Lissitzky und Dorner angestrebte, aktive Teilhabe der Besucher*innen erweist sich hier als gesteuerte Partizipation, ausgelöst durch das In-Bewegung-Setzen von Körpern. Aktiviert werden die Besucher*innen des Kabinetts also in erster Linie zum Vollzug bestimmter, von Kurator und Künstler für sie vorgesehenen Handlungen; die Möglichkeiten ihres Eingreifens in die Ausstellung (also das Verändern von Lichtverhältnissen, das Verschieben von Kassettenelementen und das Einnehmen einer vermeintlich selbstgewählten, laut Gough differenzierenden Perspektive auf das jeweilige Werk) erscheinen so stark eingeschränkt.[20] Zwar ließe sich auf konzeptueller Ebene einwenden, dass Lissitzky eben diese Begrenzungen vermittels der Vorrichtungen zur Erzielung des Effekts einer optischen Dynamik ja gerade thematisieren, und damit jenseits von Kontrollausübung die Bedingungen gesteuerter Wahrnehmung im Museum problematisieren wollte. Indessen lässt sich die (selbstverständlich keineswegs repräsentative) Schilderung Vertovs dahingehend interpretieren, dass die bürgerliche Institution des Museums auch im Kabinett der Abstrakten als disziplinarische Instanz präsent, ja regelrecht dominant war – und die institutionell-reflexive Konzeption Lissitzkys mit ihrer Autorität untergrub: So beschreibt er seine Aktivität im Kabinett mit dem Verb ощупывал, dessen Bedeutung in der von Gough herangezogenen englischen Übersetzung des Briefs mit “to grope”, begrapschen, wiedergegeben wird.[21] Damit bleibt bei der Interaktion mit dem Ausstellungsdisplay immer auch ein transgressiver Aspekt virulent, der auf ein Fortbestehen der normsetzenden Instanz verweist.
Wir haben versucht, mit unserem Projekt das Spannungsfeld von Desorientierung und Re-Orientierung mit dem Einsatz neuer Medientechnologie weiterhin aufrechtzuerhalten, wobei auch am Aktivitätsimperativ und der körperlichen Selbstjustierung im Raum der*des Besucher*in bzw. Anwender*in weiterhin festgehalten werden soll. Die Grundfunktion der App ist schnell erklärt: Je nach Betrachterstandpunkt werden die historischen Aufnahmen passgenau über die Echtzeit-Bildschirmansicht eines iPads gelegt. Die Besucher*innen können durch ihre Bewegung im Raum zwischen verschiedenen Ansichten und Aufnahmezeitpunkten navigieren, und so das Kabinett und seine Geschichte ganz neu erfahren. Die Verortung der Besucher*innen erfolgt über visuelle Marker, die auf einem im Zentrum des Raumes aufgestellten Quader angebracht sind. (Abb. 3) Die Tragestruktur des Quaders, gleichsam dessen Sockel, ist in Anlehnung an die Latten- und Metallbandkonstruktionen der Lissitzky-Räume in Dresden und Hannover zweifarbig gestaltet, sodass sich auch beim Umschreiten des Markerträgers ein Effekt optischer Dynamik einstellt. Für die Präsentation des Projekts im Sprengel Museum (Juni—Oktober 2016) wurde der Funktionsumfang der App zusätzlich um eine Selfie-Option erweitert, anhand derer die Nutzer*innen der App die fotografische Geschichte des Kabinetts selbst fortschreiben konnten: Ihre Aufnahmen wurden den Bilddokumenten zum Kabinett hinzugefügt, und ebenfalls entsprechend ihres Aufnahmestandpunkts in einer synoptischen Raumdarstellung verortet.[22]
Damit wurde eine fortgesetzte Raumdokumentation sozusagen von Laien übernommen, die die transmedial und fragmentarisch vermittelte Raumhistorie ergänzt – und dies vor allem hinsichtlich der Gebrauchsweisen des Raumes: Waren menschliche Protagonist*innen auf den historischen Bilddokumenten zum Kabinett der Abstrakten, den Konventionen fotografischer Ausstellungsansichten folgend,[23] meist konsequent ausgeblendet worden, rückte die Selfie-Funktion ihren Körper und dessen Interaktion mit dem Display in den Fokus. Dabei stand es den Nutzer*innen der Anwendung offen, wie sie sich im Einzelnen inszenieren, ob sie der fotografischen Versuchsanordnung Folge leisten oder diese unterlaufen. Bei aller Problematik der Implementierung partizipatorischer Praxen im Sinne der 2.0-Kultur im Museum[24] erscheint dieses widerständige Potential als zentral für eine echte Aneignung der Selfie-Option durch die Besucher*innen des Raumes.
Sterne für Keile
Die eingangs referierte Verstrickung von uns Kunstwissenschaftler*innen in die technologischen, politischen und epistemologischen Sachzwänge der Reproduktionsdispositive, die wir mit unserer eigenen Forschungspraxis fortschreiben, lässt sich auch ein Stückweit anhand des Entwicklungs- und Gestaltungsprozesses der Anwendung nachzeichnen. Die finale Gestalt des demonstrationsraums musste um der Gewährleistung seiner Funktionalität willen an einige technologische Vorgaben angepasst werden, wobei wir diese maschinelle Bedingtheit seiner Form auch bewusst zu reflektieren versucht haben.
Die Anwendung basiert auf der Erkennung visueller Marker durch die Gerätekamera auf der Rückseite von Tabletcomputern. Anhand der so ausgelesenen Daten wird die Position des Gerätes im Raum ermittelt, und die virtuell über das Kamerabild gelegte Ansicht eines Panoramas aus historischen Fotografien in Echtzeit an den Standort der Nutzer*in angepasst. Bei ersten Gesprächen mit den beteiligten Entwicklern kam zunächst der Vorschlag auf, die in der Rekonstruktion des Kabinetts derzeit präsentierten Kunstwerke selbst als Marker zu definieren, sodass sich die zur Augmentierung eingesetzten Geräte gleichsam anhand der aktuellen Hängung im Museumsraum verorten sollten. In Anbetracht des Anspruchs der historischen Avantgarden, die technologischen Neuerungen der Moderne künstlerisch zu reflektieren, der den meisten der im Kabinett gezeigten Positionen eignet, erschien es uns interessant, die unserer Zeit um hundert Jahre vorausgehenden abstrakten Tendenzen in der Kunst auf ihre heutige Maschinenlesbarkeit hin zu prüfen—als Abgleich sozusagen der historisch imaginierten Zukünfte mit der medientechnologischen Gegenwart.
Es zeigte sich indessen, dass die meisten der im Kabinett ausgestellten Arbeiten als Marker vollkommen ungeeignet, d.h. für die verwendete Software nicht hinreichend eindeutig identifizierbar sind (Abb. 4) Zwar bietet diese grundsätzlich die Möglichkeit, anstelle standardisierter visueller Codes (wie bspw. QR) auch andere Bilder als Marker zu definieren, doch sind mit diesem Verfahren eine Reihe von Ansprüchen an das Bild verbunden: Diese muss möglichst detail- und kontrastreich sein, und darf möglichst keine repetitiven Strukturen (Muster) aufweisen.[25] Aus der Auswertung des Bildes auf diese Faktoren hin wird die Eignung des in das Programm eingespeisten Bildes als visueller Marker ermittelt, und in einer Bewertungsskala von null bis fünf Sternen ausgedrückt.
Der hier gezeigte Proun von Lissitzky stellt mit zwei von fünf möglichen Sternen noch einen Ausreißer nach oben dar; keine Sterne erhielt unter anderem Piet Mondrians Komposition mit Gelb und Blau von 1927. Grund dafür waren die jeweils geringe Anzahl ‚markanter’ Bildelemente und die annähernd punktsymmetrische (und damit für jedes Bildviertel repetitive) Komposition der Gemälde. Wir waren fasziniert von dieser Inkompatibilität menschlicher und algorithmischer Systeme von Sinnzuschreibung, sowie natürlich von der sich daraus ergebenden Neuperspektivierung der historischen Avantgarden und der vor allem dem Konstruktivismus mithin zugeschriebenen Neigung zum Technizismus. Wir nahmen das Ergebnis daher als weiteren Beleg für die von Maria Gough aufgestellte These, dass der Technikbegeisterung El Lissitzkys immer auch ein Beharren auf extremer Sinnlichkeit dialektisch beigeordnet war, welches die Zuversicht in die emanzipatorischen Versprechen moderner Technologien zugleich auch immer mit deren fundamentaler Erschütterung zusammen zu denken erlaubte.[26]
Abb. 5Präsentation der App im Sprengel Museum Hannover (Juni—Oktober 2016): Markerobjekt im Zentrum von El Lissitzkys 'Kabinett der Abstrakten'. (Foto: Christian Pankratz 2016)
Gemeinsam mit Frieda Kühne haben wir daraufhin eine Form entwickelt, die den Anforderungen der Maschinenlesbarkeit entspricht, und diese Dimension auch menschlichen Betrachter*innen gegenüber transportiert: das Pixelmuster von QR-Codes wurde zur gestalterischen Grundlage ihrer Entwürfe für Markergrafiken (Abb. 5). Gleichzeitig sollte auf die gestalterische Maxime Lissitzkys Bezug genommen werden, die wohl archetypisch in der Form des roten Keils aus dessen berühmter Plakatlithografie von 1919 angelegt ist. Auch die für die Nutzer*innennavigation (sowie für die Überschriften zu den Texten in diesem Band) eingesetzte Schrift spielt mit den verschiedenen Wahrnehmungsweisen, handelt es sich bei der OCR doch um eine Schrift mit fester Laufweite, was ihre Maschinenlesbarkeit fördert, das menschliche Auge aber bisweilen überfordert.
Angebracht sind diese Marker auf einem eigens für das Projekt konstruierten Trägerobjekt, das mittig im Raum platziert wird, und in seinen Proportionen an die Maße des ihn umgebenden Kabinetts angelehnt ist. Auch in diesem Fall fanden wir das Moment einer Störung der musealen Betriebsabläufe, wie es vom Objekt ausgeht, für die Zwecke des Projekts eher förderlich: Der Markerträger wird so im Kabinett selbst zum eindeutig identifizierbaren Fremdkörper (Abb. 5), und außerhalb des Sprengel Museums zum Signet einer virtuellen Verräumlichung.
Augmented Reality – Aktualisierung des Abstrakten Kabinetts zwischen Online- und Offlineräumen
Die Reaktivierung des Raums in Form einer Augmented-Reality-Anwendung ermöglicht drei wichtige Aspekte medialer Teilhabe. An erster Stelle können der Raum des Archivs, die unterschiedlichen Versionen des Kabinetts der Abstrakten sowie der Ausstellungsraum zusammengeführt und zu einem kohärenten Raumeindruck ineinander fließen. Zweitens ist die*der Betrachter*in nicht bloß passiver Zuschauer, sondern kann aktiv und physisch an der Aktualisierung des Raums teilhaben. Zuletzt werden die historischen Fotografien, die die Transformation des Kabinetts dokumentieren, durch ihre digitale Beweglichkeit und Besucherpartizipation im Raum aktiviert und zeigen so nicht nur ihren Bildinhalt, sondern entfalten sich in Beziehung zu einem zeitlichen ‚Davor, danach und so-ist-es- jetzt’. Sie verweisen auf ihre historischen Medienspuren, aber auch auf die Spur der Partizipierenden im Raum. In der Anwendung entsteht, nach der Definition von Sarah Pink und Larissa Hjorth, ein Zusammenspiel zwischen Online- und Offlineräumen innerhalb digitaler Fotografien, die sie als „emplaced visuality“ bezeichnen: „That is, a visuality that is part of place and makes place, and in this case traverses and connects the material-physical with the digital-intangible.”[27]
Das entstehende Raumdispositiv kann als offene, sich bewegende und fortwährend durch Text, soziale Interaktion und Forschende konstruier- und rekonstruierbare mediales Vorrichtung verstanden werden. Auf dem Interface des Tablets erscheint ein Erfahrungsraum, der durch Bewegungen und Überlagerungen bestimmt wird. So sind die historischen Fotografien zu markierenden Punkten in der Geschichte des Kabinetts und zum anderen zu räumlichen Konfigurationen transformiert, die durch die Bewegung im Raum produzierbar und wahrnehmbar werden.[28] Augmented Reality lässt somit eine mediale Hybridität entstehen. Als Mischform zwischen visuellen, virtuellen, materiellen und physischen Bereichen folgt sie einer Mash-up-Logik, welche sich im Wechselspiel zwischen technischer Verrechnung und körperlicher Bewegung entfaltet. Nanna Verhoeff merkt dazu an:
[W]e can recognize in the navigation of a layered reality mnemonic, temporal and experiential aspects of mobility. First of all, it engages with objects in their specific place, while adding temporal layers: a form of mnemonic spacing. This logic requires some sort of spatial stability: objects need to be in their place for some time in order to function as markers [...]. As such, the logic relies on archival information attached to a spatial presence. Augmented Reality applications are built on databases (archives) of metadata attached to (geo-)spatial information. Secondly, the mash-up logic provides means to experience a ‘different’ [space]. It adds, changes, enhances and constructs a [space] of difference.[29]
Daraus resultiert ein neuer, beinahe haptischer Blick durch Navigation, physische Teilhabe und räumliche Performance. Zwischen den Fotografien und den Betrachter*innen kann eine körperliche Beziehung hergestellt werden, die in einem haptisch-visuellen Erlebnis resultiert.
Paul Divjak hebt in Anlehnung an die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte drei Verfahren hervor, durch welche die Performativität des sich entfaltenden Raums Intensivierung erfährt. Sie benennt erstens die Verwendung eines (fast) leeren Raumes bzw. eines Raumes mit variablem Arrangement, der beliebige Bewegungen von Akteur*innen und Zuschauer*innen zulässt. Zweitens führt sie die Schaffung spezifischer räumlicher Arrangements an, die bisher unbekannte oder nicht genutzte Möglichkeiten zur Aushandlung der Beziehungen zwischen Zuschauer*innen, von Bewegung und Wahrnehmung eröffnet. Die Verwendung vorgegebener und sonst anderweitig genutzter Räume, deren spezifische Möglichkeiten erforscht und erprobt werden, bildet das dritte Verfahren.[30] Diese Verfahren fließen in der Augmented Reality Anwendung ineinander und resultieren in der Aufhebung der klassischen Grenzziehung zwischen Betrachter*in und Objekt, Ausstellungsraum und Archiv, Online- und Offlineraum sowie Zeitgrenzen, hin zu einem neuen hybriden Aktionsraum, in der sich visuelle und physische Präsenz und mediale Diskursivität entfalten können. Nanna Verhoeff erkennt abschließend:
A]ugmented reality provides a practiced narrative in that it tells spatial stories in the making: it makes experiences unfold in space at the moment of their occurrence. Hence, it is procedural, in the sense that movement through space and interaction with on-screen layers of digital information to off-screen geographical and material presence unfolds in time.[31]
Museum, Sammlung, Archiv im Digitalen
Das Projekt demonstrationraum speist sich grundlegend auch aus der Aktualität dieses komplexen Themengebiets der musealen Praxis. Es greift jedoch auch Ansätze des Wissenschaftsbereichs unter dem Stichwort ‚Digital Science’ auf und vereint diese beiden Disziplinen von Forschung und Vermittlung in der App.
Von einem gesteigerten Interesse am Thema ‚Museum und Digitalität’ zeugen aktuell zahlreiche Konferenzen und Forschungsprojekte. Aber auch das internationale Feuilleton beschäftigt sich momentan regelmäßig mit diesem Thema und trägt es damit über die Fachkreise hinaus in einen gesellschaftlichen Diskurs. Statt also den ‚Tod des Museums’ zu bringen, scheint sich mit dem Einzug digitaler Medien am Museum vielmehr eine Wiederbelebung zu vollziehen. Das Städel Museum in Frankfurt, so berichtet Inka Drögemüller auf dem FAZ-Forum,[32] verzeichnet monatlich ebenso viele Besucher*innen online wie offline. Und weitere neueste Erfahrungsberichte belegen, dass die Online-Präsenz die Besucher-Erfahrung im Museum keinesfalls ersetzt, sondern vielmehr als ein anderer, zweiter, zusätzlicher Erfahrungsraum verstanden werden will. Als solcher muss der museale Online-Raum deshalb auch erachtet und gestaltet werden.
Dabei geht die Thematik über die Expertise der Kunsthistoriker*innen hinaus, denn während es zunächst einmal galt, die Bestände nach Fachkategorien zu digitalisieren, sie also als Reproduktionen in Datenbanken, einem Archiv gleich, wiederzugeben, stehen wir jetzt vor der Frage, wie und durch welche Formate, mit welchen Medien und auf welchen Portalen diese digitalen Inhalte als ‚zweite Sammlung’ sichtbar gemacht oder vermittelt werden können.
Boris Groys hatte bereits vor zehn Jahren, in seinem Text zum „Archiv der Zukunft”, das Museum mit dieser scheinbar paradoxen Wendung beschrieben und dieser Bestimmung auch gleich ein Plädoyer angeschlossen:
Plädoyer für eine neue Art des Museums: eines Museums nicht bloß als Archiv der Vergangenheit, sondern ebenfalls das Archiv der Zukunft […] – als Ort der Dokumentation der Ereignisse, die gerade weil sie dokumentiert sind, auch wiederholbar sein können. Wenn das Museum sich auf diese Weise wandelt – und es ist in diesem Wandel begriffen – dann können wir in der Tat auf ein gutes, interessantes Leben des Museums nach seinem vorläufigen Tod hoffen.[33]
An diesem Wendepunkt sind wird heute längst angekommen. Er gestaltet sich im Museum als komplexes Gefüge aus Objekt- und Raum-bezogener Präsentation und ‚digitalen Avataren’ der Kunstwerke. Deren (digitale) Vermittlung fragt nach einer neuen Expertise, die Kunstgeschichte, Besucherbildung und -bindung sowie sich ständig erneuernde Medientechnologien vereint.
Für die Museen birgt diese Verdoppelung ihrer Sammlung und Ausstellungsfläche ein großes Potenzial, sie bringt jedoch auch eine neue Art von Verantwortung mit sich. Etwa bei der Frage, ob die eigene Sammlung für den digitalen Zugang mit privatwirtschaftlichen Unternehmen, wie im Rahmen des Google Art Project, geteilt werden soll. Oder ganz grundsätzlich, ob sich die Logik der Datenbank ohne weiteres auf die Institution des Museums übertragen lässt. So konstatiert Mike Pepi einen wachsenden Druck auf Museen, ihre Bestände über das Prinzip der Suchanfrage zu erschließen.[34] Damit geht jedoch, so Pepi, eine Absage an die gesellschaftliche Aufgabe des Museums einher, die ihm zufolge gerade in der in die Vergangenheit gerichteten Aufbewahrung historischer Zeugnisse – einer Speicherung um ihrer Erinnerung willen – besteht. Dem gegenüber steht die Erschließung von Beständen durch Datenbanken, die den durch sie dem Zugriff dargebotenen Speicher performativ und instrumentell auf künftige Verwertung hin umdeuten. Diese Effizienzsteigerung beim Zugreifen auf Daten bringt jedoch, wie Pepi betont, einen Verzicht auf die Reflexion historischer Bedingtheit der Datenbankbestände mit sich, eine Form von Zeitbesessenheit (als absoluter Gegenwart), die der musealen Zeitenthobenheit diametral entgegen steht. In Abgrenzung zur Datenbank schlägt Pepi auch eine Minimaldefinition des Museums vor, der wir mit unserem Ausstellungsprojekt Rechnung tragen möchten: „The museum derives its special status from the ‚un-queryable‘ structure of its objects.“[35]
Die synoptische Darstellung der historischen Fotografien zum Kabinett versteht sich daher als Gegenentwurf zur (metadaten-basierten) ‚Suchbarkeit‘, als Vorschlag einer alternativen Gestaltung der Verschränkung von Museums- und Archivparadigma (in dessen Folge die Logik der Datenbank zu verorten wäre). Die Bestände aus dem Archiv des Sprengel Museums präsentieren sich als ‚visuelles Archiv‘, dass dem Prinzip des selektiven Zugriffs jenes der Übersicht gegenüberstellt. Dieses Prinzip wird auch für die Einschreibung der User*innen in das visuelle Archiv des Werks beibehalten: die in der Interaktion mit dem Raum entstehenden Selfies werden analog zu den historischen Fotografien im Raum verortet, sodass hier museale Funktionslogiken (Erinnerung) mit Teilhabe (Erfahrung) verbunden werden. Somit entsteht ein neues Vermittlungsformat, das die Kunst gleichfalls popularisiert und niederschwellig öffnet. Im Falle des demonstrationsraums hieß die Devise vor dem Hintergrund der Aktualität des Themas ‚Museum und Digitalität’: einen Ansatz zu formulieren, um das Unsichtbare des Museums sichtbar machen, das Archiv für die User*innen zu öffnen, die Geschichte des Kabinetts als Fragment darzustellen, sie zu kontextualisieren und damit Lissitzkys Konzept durch den dezidierten Mediengebrauch zu reaktivieren.
■
>>> Isabel Schulz: Die Rekonstruktion von El Lissitzkys „Kabinett der Abstrakten“ auf dem Prüfstand: Geschichte, Museumspraxis, Pläne
[1] In Anbetracht der bis heute offenen Frage nach der Bewertung der geteilten Autorschaft am Kabinett erscheint es ebenso möglich, das Werk in erster Linie als einen kuratorischen Eingriff Alexander Dorners zu verstehen. Dies ist nur ein Aspekt von vielen, die das Kabinett in seiner kunst- und ausstellungshistorischen Einordnung haben derart schillern lassen. Für unseren Zugang indessen sind andere Themenkomplexe von größerer Bedeutung, weswegen wir hier in der Zuschreibung der primären Autorschaft an Lissitzky – und der Bezeichnung des Kabinetts als Kunstwerk – der gängigen Auffassung in der Literatur folgen. Zur Frage nach der Autorschaft am Kabinett, vgl. den Beitrag von Annette Tietenberg in diesem Band; zur Museumspraxis, die der Auffassung vom Kabinett als Kunstwerk teilweise entgegen steht, vgl. den Beitrag von Isabel Schulz in diesem Band.[2] El Lissitzky: Demonstrationsräume (1926), in: Sophie Lissitzky-Küppers (Hg.): El Lissitzky. Maler – Architekt – Typograf – Fotograf, Dresden 1976, S. 366f.[3] Unterschiedliche Terminologien zur Beschreibung des Kabinetts in seiner heutigen Form (“Nachbildung”, “Kopie”, “Rekonstruktion”, etc.) bringen unterschiedliche Auffassungen, den kunsthistorischen Status seiner Ersteinrichtung in den 1920ern betreffend, zum Ausdruck. Die in diesem Beitrag verwendeten Begrifflichkeiten zielen darauf ab, das Kabinett in der von Dorner beauftragten Version nicht als unwiederholbares, authentisches Original zu postulieren. Vielmehr sollen sie zum Ausdruck bringen, dass in den historischen Demonstrationsräumen Lissitzkys ein Verfahren zur Erschütterung sicher geglaubter bürgerlicher Subjektpositionen angelegt war, das, so Lisstzkys eigene Absicht, standardisiert, und damit örtlich und zeitlich versetzt aktualisiert werden könnte. Vgl. Lissitzky: Demonstrationsräume (Anm. 2), S. 365, sowie die Beiträge von Isabel Schulz, Steven ten Thije und Annette Tietenberg in diesem Band.[4] Dazu wäre etwa eine Bestimmung des fotografischen Ausgangsmaterial mit seinen spezifischen Eigenschaften sowie die Beantwortung der Frage ob und welche Farbfilter verwendet wurden, notwendig.[5] Annette Tietenberg bezeichnet die aktuelle Rekonstruktion des Kabinetts im Sprengel Museum aus diesem Grund als eine “in die Dreidimensionalität überführte Fotografie”, vgl. ihren Beitrag in diesem Band.[6] Das ‚Fotografische’ wird hier vor dem Hintergrund unserer gemeinsamen Forschung am Graduiertenkolleg ’Das fotografische Dispositiv’ als „komplexes Handlungsgefüge“ verstanden, „dem spezifische historische, technisch-mediale, soziale, kulturelle und ästhetische Bedingungen zugrunde liegen, dem aber auch das Potenzial zu deren Störung und Modifikation innewohnt.“ http://dasfotografischedispositiv.de/, eingesehen am 29.3.2016. Vgl. das Vorwort von Katharina Sykora für eine Einordnung der Rolle der Fotografie in die Aktualisierungen des Kabinetts.[7] Der App demonstrationsraum kommt hier also auch die Funktion zu, durch Momente von Opazität die Bedingungen virtueller Verräumlichung anhand ihrer Grenzen erfahrbar zu machen. Sie verhält sich mit der Verweigerung von Immersion und Transparenz zum realen Raum wie der Blick durchs Schlüsselloch, den Lissitzky diesem in seinen Notizen zur Ausstellungsarchitektur als Antagonisten gegenüber stellt, vgl. Lissitzky: Demonstrationsräume (Anm. 2), S: 365: „Raum: das, was man nicht durch das Schlüsselloch ansieht, nicht durch die offene Tür. Raum ist nicht nur für die Augen da, ist kein Bild; man will darin leben.“ Vgl. hierzu auch Philipp Sack: Tatschend betrachten. Immersion und Opazität bei der Vermittlung eines interaktiven „Demonstrationsraums" via Augmented Reality im Museum, in: Institut für immersive Medien (Hrsg.): Jahrbuch immenser Medien 2016. Interaktive Medien: Interfaces - Netze - Virtuelle Welten, Marburg: Schüren (im Erscheinen).[8] Ebd. Für eine Darstellung des von Lisstzky 1926 in Dresden realisierten Ausstellungsraums und dessen Verhältnis zum im Jahr darauf fertig gestellten Hannoveraner Kabinett vgl. den Beitrag von Kai-Uwe Hemken in diesem Band.[9] Lissitzky: Demonstrationsräume (Anm. 2), S. 365[10] Der von Lissitzky 1923 für die Große Berliner Kunstausstellung geschaffene Prounen-Raum, der gemeinhin als Vorläufer der beiden Ausstellungs-Schau-Räume anerkannt ist (vgl. hierzu wiederum den Beitrag von Kai-Uwe Hemken in diesem Band), könnte auch den Schlüssel zur begrifflichen und konzeptuellen Weiterentwicklung seiner Praxis als Ausstellungsarchitekt, d.h. als Schöpfer von „Demonstrationsräumen“ liefern: Im Juli 1923 steuert Lissitzky eine Fotomontage des Raums zur ersten Ausgabe der von Hans Richter herausgegebenen Zeitschrift G – Material zur elementaren Gestaltung bei. In der gleichen Nummer findet sich eine Skizze Richters zu einem „Demonstrationsfilm“, der anhand von elementaren geometrischen Formen die gestalterischen Grundlagen des Mediums veranschaulichen soll. Es ließe sich also durchaus spekulieren, ob Lissitzkys Terminologie (so sie durch Richter mit geprägt wurde) ein Moment der Intermedialität inhäriert; an dieses schließt die Namensgebung der App an. Der Vorschlag eines terminologischen wie konzeptuellen Anschlusses Lissitzkys bei Richter findet sich bei Sotirios Bahtsetzis: Geschichte der Installation. Situative Erfahrungsgestaltung in der Kunst der Moderne, Univ. Diss. TU Berlin 2005, S. 144 - 146. Für eine Darstellung der Filmexperimente Richters im Kontext von G, vgl. Inga Pollmann: Zum Fühlen gezwungen: Mechanismus und Vitalismus in Hans Richters Neuerfindung des Films, in: Karin Fest/Sabrina Rahman/Marie-Noëlle Yazdanpanah (Hg.): Mies van der Rohe, Richter, Graeff & Co. Alltag und Design in der Avantgardezeitschrift G, Wien/Berlin 2014.[11] Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: GS I.2, S. 471 – 508.[12] Vgl. hierzu auch das Vorwort von Katharina Sykora in diesem Band.[13] vgl. Beatrix Nobis: El Lissitzky: ,Der Raum der Abstrakten’ für das Provinzialmuseum 1927/28, in: Bernd Klüser/Katharina Hegewisch (Hg.): Die Kunst der Ausstellung. Eine Dokumentation dreißg exemplarischer Kunstausstellungen dieses Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1991, S. 76. In diesem Zusammenhang mutet vor allem der hellgraue Teppich, der in der bis Ende 2016 im Sprengel Museum gezeigten Rekonstruktion von 1979 verlegt worden ist, wie ein Eingeständnis dieser von Lissitzky kritisierten, lähmenden Wohnlichkeit des Museumsraumes an.[14] Theodor W. Adorno: Valery Proust Museum, in: ders.: Prisms, London 1967, S. 175.[15] Annette Tietenberg: Die Fotografie – eine bescheidene Dienerin der Wissenschaft und Künste? Die Kunstwissenschaft und ihre mediale Abhängigkeit. In: dies. (Hg.): Das Kunstwerk als Geschichtsdokument. Festschrift für Hans-Ernst Mittig, München 1999, S. 61-80, hier S. 77f.[16] Alexander Dorner: Zur Abstrakten Malerei. Erklärung zum Raum der Abstrakten in der Hannoverschen Gemäldegalerie, in: Die Form 3,4 (1928), S. 110–114. Online: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/form1928/0120, eingesehen am 30.3.2016.[17] Vgl. Maria Gough: Constructivism Disoriented: El Lissitzky's Dresden and Hanover 'Demonstrationsräume', in: Nancy Perloff/Brian Reed (Hg.): Situating Lissitzky: Vitebsk, Berlin, Moscow, Los Angeles 2003, S. 77–125, hier S. 109.[18] Ebd., S. 109.[19] Cornelia Oßwald-Hoffmann: Zauber… und Zeigeräume: Raumgestaltung der 20er und 30er Jahre, Dissertation, München 2003, S. 330.[20] Lissitzky selbst spricht in seiner programmatischen Schrift zum Hannoveraner Raum davon, dass die Vorrichtungen zur Besucheraktivierung dazu dienten, die Nutzer*innen des Kabinetts physisch zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den ausgestellten Objekten zu ‚zwingen’. Vgl. Lissitzky: Demonstrationsräume (Anm. 2), S. 367.[21] Gough: Constructivism Disoriented (Anm. 17), S. 111.[22] Dabei handelt es sich um ein durchaus ambivalentes Unterfangen, reiht sich doch dieses Angebot in die Tradition panoptischer Apparate ein, die Wissen auf ein (Macht-)Zentrum hin organisieren. In einem Interview mit Hito Steyerl weist Marvin Jordan auf eine interessante historische Koinzidenz hin, die es in diesem Zusammenhang zu bedenken gilt: jene ironische Fügung, „that, in the same year as the unprecedented NSA revelations, ‘selfie’ was deemed word of the year by Oxford Dictionaries“, http://dismagazine.com/disillusioned-2/62143/hito-steyerl-politics-of-post-representation, eingesehen am 30.3.2016.[23] „The space space offers the thought that while eyes and minds are welcome, space-occupying bodies are not. […] This Cartesian paradox is reinforced by one of the icons of our visual culture: the installation shot, sans figures. Here at last the spectator, oneself, is eliminated. You are there without being there – one of the major services provided for art by its old antagonist, photography.“, Brian O’Doherty: Notes on the Gallery Space, in: ders.: Inside the White Cube. The Ideology of the Gallery Space, San Francisco 1986, S. 13–34 (hier S. 15), zuerst erschienen in Artforum 3/1976.[24] Vgl. Steven Wright: Toward A Lexicon of Usership, Eindhoven 2013, S. 39 – 41. Wright kritisiert Praktiken organisierter Teilhabe, wie sie unter dem Stichwort Museum 2.0 zu beobachten sind. Diese perpeturierten das Konzept des geistigen Eigentums und spitzten es in Wahrheit sogar zu, da durch Nutzer*innen unentgeltlich generierter Content vom Museum vereinnahmt, Mehrwert abgeschöpft werde.[25] https://developer.vuforia.com/library/articles/Best_Practices/Recommendations-for-Improving-Target-Detection-and-Tracking-Stability, eingesehen am 31.3.2016.[26] Gough: Constructivism Disoriented (Anm. 17), S. 101.[27] Larissa Hjorth/Sarah Pink: New Visualities and the Digital Wayfarer: Reconceptualizing camera phone photography and locative media, in: Mobile Media & Communication. 2,1 2014, S. S.40-57, hier S. 46.[28] Ebd., S. 48.[29] Nanna Verhoeff: Mobile Screens: The Visual Regime of Navigation, Amsterdam 2012, S.162.[30] Paul Divjak: Integrative Inszenierungen, Bielefeld 2012, S. 43.[31] Verhoeff: Mobile Screens (Anm. 29), S. 163.[32] Panel: Die digitale Wende: Bleibt alles anders?, FAZ-Forum ’Digitalisierung. Kunst - Medien - Markt’, 26.11.2015.[33] Boris Groys: Archiv der Zukunft. Das Museum nach seinem Tod, in: Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grütter/Jörn Rüsen: Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung der Geschichte, Bielefeld 2004, S. 39-52, hier S. 51.[34] Mike Pepi: Is a Museum a Database?: Institutional Conditions in Net Utopia, in: e-flux journal 60 (12/2014). Online: http://worker01.e-flux.com/pdf/article_8992811.pdf, eingesehen am 11.12.2014. Zur kritischen Aufarbeitung der in Datenbanken eingeschriebenen Ideologie, vgl. auch ders./Marvin Jordan (Hg.): DIS Magazine. The Data Issue: Too Big to Scale, Frühjahr 2015. Online: http://dismagazine.com/issues/data-issue/, eingesehen am 4.4.2016.[35] Pepi: Is a Museum a Database (Anm. 35), S. 6.
© 2016 Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und Sprengel Museum Hannover
Impressum
Kontakt