Das Kabinett der Abstrakten, zunächst 1927 im Hannoveraner Provinzial-Museum, dem späteren Landesmuseum, installiert, 1937 von den Nationalsozialisten in Folge der Aktion „Entartete Kunst“ zerstört, 1968 wiedererrichtet und gute zehn Jahre später in das neu erbaute Sprengelmuseum überführt, gilt als einer der wichtigsten Schauräume der Moderne. Oder vielmehr: Es sind viele verschiedene Schauräume. Entworfen vom russischen Avantgardekünstler El Lissitzky, in einer ersten Form in Abwesenheit des Künstlers gebaut und in das kuratorische Konzept des damaligen Auftraggebers und Kurators Alexander Dorner eingepasst, nach der Zerstörung in einer veränderten Fassung erneut errichtet und aufgrund der Ortsveränderung modifiziert, dabei über die Jahre mit verschiedenen Paratexten umgeben, durchlief das Projekt zahlreiche Metamorphosen. Diese unterschiedlichen Manifestationen werfen vielfältige Fragen auf. So wird in Diskussionen über historische wie aktuelle konservatorische und kuratorische Praktiken nach dem Verhältnis von Original und Kopie des Raums der Abstrakten gefragt. In kunsthistorischen Diskursen wird die geteilte, respektive multiplizierte Autorschaft von Lissitzkys Ideen und deren Realisierungen thematisiert. In wahrnehmungstheoretischen Erörterungen werden Fragen nach der gezielten Einwirkung des Raums auf die Besucher*innen und ihrer Rolle als Akteure bei der Begehung aufgeworfen.
All diese Perspektiven hat eine Gruppe von Kollegiat*innen des DFG-Graduiertenkollegs Das fotografische Dispositiv an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig aufgegriffen, gewendet und erweitert. Sie hat dies auf zwei Weisen getan, einer praktischen und einer historisch-kritischen: Sie entwickelte eine App, in der die historischen Raumansichten sich passgenau über die Echtzeit-Kameradarstellung des Raumes (oder, außerhalb des Kabinetts, eine sphärische Fotografie desselben) legen. Diese Bilder sind ihrerseits mit weiteren Informationen versehen, die auf Wunsch abgerufen werden können.
Gewichtige Verschiebungen gehen damit einher: erstens vom dreidimensionalen, gebauten Ambiente zum virtuellen Raum auf der digitalen Fläche; zweitens von einer historischen Raumversion zu einem vielschichtigen Palimpsest aus Bildern des Raums der Abstrakten, die unterschiedlichen Zeitschichten entstammen (1928-1934, 1968, 1979, heute); drittens von einer (in ihrer Bezugnahme relativ) offenen medialen Dyade aus Entwurfszeichnungen und gebautem Raum zu einer dichten Schichtung multipler Medien (Zeichnungen, drei gebaute Räume, Fotos, historische und aktuelle Begleittexte, Digitalisate); viertens von einem ‚eindeutigen‘ Interpretationsrahmen (der kunsthistorischen Teleologie Dorners) zu mehrdeutigen, teils konträren Annäherungsoptionen innerhalb eines offenen ‚Living Archive‘; fünftens von den im gebauten Museumsraum anwesenden Besucher*innen zu den sich an unterschiedlichen Orten befindenden Nutzer*innen der App.
Die aktive, multisensorische, räumliche Wahrnehmung, die El Lissitzkys Raum der Abstrakten evozieren sollte, wird durch die App in eine weitere Wahrnehmungsweise übersetzt, ohne dass die eine die andere ersetzt. Das Modell eines ästhetischen Handlungsraumes wird vielmehr mit neuen Mitteln fortgesetzt. Es geht also nicht um eine Form der ‚Optimierung‘ , die eine ‚bessere‘, korrektere Annäherung an den Raum der Abstrakten bereitstellt; im Gegenteil: Der Palimpsestcharakter der App weist ostentativ auf die Inkompatibilitäten zwischen den unterschiedlichen Raumvorstellungen und -umsetzungen hin, mehr noch aber zeigt sie durch den Montagecharakter der verbleibenden fotografischen und textuellen Quellen die Lücken auf, die sich nicht zu einer homogenen Perspektive und mithin einem ganzheitlichen Bild des Raumes schließen lassen. Ein solches Verfahren vervielfältigt den Zeigecharakter, der bereits in Lissitzkys ‚Demonstrationsraum‘, wie der Raum der Abstrakten auch genannt wird, angelegt war.
Die mit der Entwicklung des Projekts und der dazugehörigen App verbundenen Fragen nach dem Handlungspotenzial, dem Archiv- und Zeigecharakter sind Leitfragen, mit denen sich das Graduiertenkolleg Das fotografische Dispositiv seit 2013 im Rahmen seines Studienprogramms intensiv auseinandergesetzt hat. Eine Ausstellung war dabei explizit mit anvisiert. Dass dies eine virtuelle Ausstellung werden würde, war auch für das Kolleg eine Überraschung. Für die im Projekt engagierte Gruppe aber war dies eine konzeptionelle wie technische Herausforderung, die bis heute anhält. Ihre Resultate werden nun für ein breites Publikum erfahrbar gemacht. Dass die App in sehr unterschiedlichen realen Räumen wie der Niedersächsischen Landesvertretung beim Bund in Berlin (Dezember 2015), des Sprengel Museums Hannover (Juni-Oktober 2016), und der Hochschulgalerie der HBK Braunschweig (Oktober 2016) auf die Probe gestellt werden kann, ergibt sich aus der ebenso kollegialen wie kongenialen Zusammenarbeit mit allen beteiligten Wissenschaftler*innen und Institutionen. Sie haben das Projekt mit ihrem Fachwissen unterstützt und es im Rahmen einer Tagung am 2. Dezember 2015 in ihre Fachdiskurse eingebettet. Die vorliegende Online-Publikation stellt auch diese wissenschaftlich-kuratorischen Ergebnisse zur Verfügung.
Aus den Beiträgen der Tagung und den Perspektiven des Graduiertenkollegs ergeben sich Fragen, die es weiter zu diskutieren lohnt. Im Folgenden seien daher einige ‚neuralgische‘ Punkte aufgerufen, die während der Tagung teils bereits angerissen wurden, sich teils aber auch erst im Nachhinein ergeben haben.
Ursprung und Kopie(n)?
In museologischen und ausstellungshistorischen Diskussionen tauchen immer wieder Denkfiguren auf, die von Praktiken der Restaurierung, Rekonstruktion oder Kopie des Raums der Abstrakten sprechen. Dies setzt implizit voraus, es habe einmal (‚ein für alle Mal‘?) ein Original gegeben. Zugleich wird gerade in detaillierten Forschungen zu den Anfängen von Lissitzkys Projekt deutlich, dass es ihm um ein Sprungbrett für weitere Ausformulierungen seiner Idee eines umfassenden Wahrnehmungsraumes ging, in denen Schauraum, Tastraum, Fühlraum, Hörraum (und vielleicht Riechraum?) zusammenkommen sollten, nicht jedoch primär um einen Ursprungsmythos im Sinne einer Neusetzung ex nihilo (obwohl dies im Sinne der Moderne intentional sicherlich auch bei ihm mitschwang). Der Abstraktionsgrad und zugleich die Konkretheit von Lissitzkys zu Papier gebrachten Ideen zeugen von einer Kombination aus deutlichen Determinanten (Anweisungen für die Lamellen der Wand, partielle Vorgaben für die Farbgebung, Begehungsstruktur und Aufmerksamkeitslenkung der Betrachter*innen im Raum) und einer Offenheit im konkreten Detail: So bestand das Angebot, variierte ‚Einsatzbilder‘ in seinen Kunstraum zu implementieren, es gab keine genauen Vorgaben für die Chromatik bestimmter Raumelemente und die Lichtgestaltung durch Tages- und später Kunstlicht ließ unterschiedliche atmosphärische Wirkungen des Raumes zu. Eine derartig elliptische Grundkonstellation lässt auf die Intention ebenso offener Realisierungen schließen. Daher erscheint es logisch, dass Lissitzky dem Kurator Dorner sein Modell ohne persönliche Teilnahme an dessen erster Umsetzung zueignete.
Modell und Response: Living Archive
Diese offene Denkfigur, die dem Raum der Abstrakten zugrunde liegt, greift die App der Kollegsgruppe auf: Sie folgt nicht der Dialektik von Ursprung und Kopie(n), sondern bezieht sich auf die Relation von Modell und Reprise, die als das produktive Movens von Lissitzkys künstlerischem ‚Exposé‘ gelten kann. Dabei handelt es sich jedoch keinesfalls um eine Denkfigur der vollständigen Entkoppelung von Entwurf und Umsetzung, sondern vielmehr um eine Lockerung und zugleich Verkomplizierung dieser Beziehung: Die Reprisen erhalten weitgehende Freiheit in ihrer Bezugnahme auf Lissitzkys Ideen und können zugleich die jeweilige historische, kulturelle, technologische Spezifizität ihrer eigenen Position explizit mit ihm ins Spiel bringen. Die App ließe sich somit als aktuellste, aber nicht letzte (=vollkommenste) Fortschreibung eines transhistorischen, ‚interaktiven‘ Responseverfahrens verstehen. Dies entspricht dem Konzept eines Living Archive, das durch die Akkumulation historischer Quellen einen Beitrag zum kollektiven, (kunst-)historischen Gedächtnis leistet, mehr noch aber das anamnetische Potenzial des Archivs befördert, indem es zur aktiven Bezugnahme einlädt. Mit jeder Nutzung, einer individuellen ‚Grabung‘ vergleichbar, werden neue Konstellationen aus dem Fundus der Geschichte entborgen und zugleich wird ein dichtes Netz von Fäden gesponnen, das aus der Gegenwart in die Schichten der Vergangenheit führt, die in der App eingelagert sind.
Aufführungsraum und Fotografie
Lissitzkys Raum der Abstrakten war nicht als Museumsraum gedacht, er sollte vielmehr angemessene Bedingungen für die optimale Wahrnehmung moderner Kunst bieten. Ist er dann aber eine begehbare Raumplastik, wie wir sie später etwa von Niki de Saint Phalle kennen, also ein innen wie außen durchgestaltetes eigenes Werk? Oder ist er ein Ausstellungsraum, der sich den dort gezeigten künstlerischen Arbeiten unterordnet? Ist er lediglich ‚Lieferant‘ für eine atmosphärisch dichte, oft als auratisch bezeichnete Rezeptionssituation? Oder ist er dem Kinoraum vergleichbar, in dem die Besucher*innen, aus den konventionellen Außenräumen kommend, immersiv in eine imaginäre Welt eintauchen? All diese Möglichkeiten sind bereits eingehend – u.a. von den Teilnehmer*innen der Tagung in Berlin – durchdacht worden. Und dennoch scheint der Raum der Abstrakten – ähnlich wie Lissitzkys Raum für konstruktive Kunst in Dresden oder Kurt Schwitters Merzbau, dessen Rekonstruktion sich ebenfalls im Sprengel Museum befindet – etwas von allem zu haben und sich zugleich jedem Handbuch der Exponatik zu entziehen. Vielleicht war Lissitzky ja auf der Suche nach dem Dispositiv moderner Kunstwahrnehmung, das quer zu den Dispositiven von Museum, Ausstellung oder Kino Anordnungen zu schaffen suchte, die als Agenzien der Wahrnehmung zu bezeichnen wären: Anordnungen, die selbst egalitärer Teil des Gezeigten und zugleich Akteure des Zeigens sind. Dann wären die Elemente des Raums der Abstrakten und ihr spezifisches Gefüge eine mögliche Anleitung zu einer komplexen, selbstbewussten Wahrnehmung sowohl des Raums als Werk, wie auch der Werke im Raum und der Besucher*innen im Zusammenspiel mit beiden. Es wäre ein Aufführungsraum, der zwar ein primäres Begehungs- und Benutzungsangebot macht, aber diese nicht verabsolutiert, sondern es der Eigenaktivität der Besucher*innen überlässt, individuelle Erfahrungen zu machen. So wie Raum und Werke sich verzahnen und einander bedingen, so sollten sich hier auch Kunstproduktion und Kunstrezeption im Akt der multisensorischen und kognitiven Wahrnehmung verbinden. Ein solches Setting könnte überall sein, es bedürfte lediglich einer Markierung oder Rahmung, wie beispielsweise der Quader bei der App-Präsentation im Foyer der Niedersächsischen Landesvertretung beim Bund, der anzeigt, dass hier eine Wahrnehmung zu künstlerischen Konditionen zur Aufführung gebracht wird.
Wie verhält sich nun die offene Qualität dieses raumzeitlichen Wahrnehmungsdispositivs zur Fotografie und zum fotografischen Sehen? Auch im Zusammenhang mit dem Raum der Abstrakten kommt die Fotografie erst post festum ins Spiel; sie war nicht Teil der Entwurfsphase und nicht Teil der ausgestellten Exponate. Vielmehr wurde sie in die Funktionale gebracht, um Raum, Werke und Texte retrospektiv zu dokumentieren und für eine mögliche Zukunft zu konservieren. Diese prospektive Funktion machte die Fotos im Fall des Raums der Abstrakten zu wichtigen Agenzien späterer Rekonstruktion: Indem sie die unterschiedlichen historischen Zustände zeigten, wurden sie Ausgangspunkt für immer neue räumliche Rekonstruktionen. Die 37 nachgewiesenen Schwarzweißaufnahmen des ersten gebauten Raums der Abstrakten wurden zwischen 1928 und 1934 zu vier verschiedenen Zeitpunkten gemacht und führten bei den späteren Bauten zu unterschiedlichen, teils konträren Resultaten. Hier wird der medienspezifische Charakter der Fotografie zur Herausforderung: Ihr Schwarzweiß lässt nur bedingt chromatische Übersetzungen zu. Ihre Zweidimensionalität verrät wenig über die raumzeitlichen und atmosphärischen Bedingungen des Ortes. Ihre Statik erlaubt nicht, die Beweglichkeit der Schiebeelemente oder die Perspektivveränderungen durch eine leibliche Begehung nachzuvollziehen. Ihr Ausschnittcharakter macht Lücken zwischen den Bildern deutlich: Ganze Raumkompartimente entziehen sich so einer genauen Rekonstruktion. Und die kleinen Dimensionen der Fotos minimieren den Erfahrungswert des Raumes als den menschlichen Körper umgebende Hülle. Aus der Perspektive eines von Original und Kopie ausgehenden Rekonstruktionsgedankens ist die Fotografie daher eher ein Medium des Mangels, ihre Dokumentarfunktion enttäuscht. Da helfen auch die ausführlicheren fotografischen Aufnahmen der späteren Bauten nichts.
Lösen wir uns jedoch vom traditionellen Transparenz- und Beweisparadigma, das der Fotografie eine unverstellte Darstellung faktischer Gegebenheiten zuordnet, erhält sie eine andere Rolle in Bezug auf den Raum der Abstrakten: Sie tritt als Komplizin seines offenen Wahrnehmungsdispositivs auf. Das was zuvor als Mangel erschien, gewinnt dann ein spielerisches, reflexives, kritisches Potenzial. Ihr Grisaillecharakter fordert die bewusste Entscheidung zwischen Schwarzweiß und Buntfarben sowie den differenzierten Umgang mit Farbtönen heraus. Die Zweidimensionalität reflektiert das Verhältnis von Planimetrie und räumlicher Ausdehnung im Verhältnis zum Körper der Betrachter*innen, wie es Lissitzky durch die Verhältnisse von Gemälden, Schiebeplatten, Lamellen im Verhältnis zur plastischen Körperlichkeit der Besucher*innen artikulierte, eine Relation, die sich auch zwischen den Betrachter*innen der Fotografie und den Bildern in ihren Händen entfaltet. Ihr Ausschnittcharakter macht das elliptische Potenzial des Raums der Abstrakten spürbar: Die Fehlstellen zwischen den Bildern regen sowohl zur aktiven imaginativen Schließung an wie auch zur Reflexion über ein unabschließbares, bruchstückhaftes Sehen, das dennoch stets seine Ergänzung hervorzutreiben sucht. Die Fotografie evoziert somit eine zwischen Sehen, Nichtsehen und Imagination changierende Rezeption. So entsteht – ähnlich wie bei der Referenz der gebauten Räume der Abstrakten zu den Ideen und Skizzen Lissitzkys – eine Lockerung der Referenzialität zwischen den Fotografien und dem in ihnen abgebildeten Raum. Die Fotografie nimmt vielmehr eine gleichwertige Rolle ein im Dispositiv künstlerischer Wahrnehmung, die sowohl körperlich-immersiv wie kritisch-kognitiv vonstatten geht. Sie verschränkt eine aktive Handhabung im gegenwärtigen Moment der Wahrnehmung mit einer Bewusstwerdung der Historizität des Gezeigten wie der eigenen Person als Betrachter*in.
Augmented Reality als kunstpolitisches Verfahren?
Die von der Kolleggruppe konzipierte App bezieht jedoch nicht nur eine Auswahl aus den 37 Schwarzweißfotos des ersten Baus ein, sondern auch zahlreiche Fotografien der späteren Versionen. Was passiert, wenn sie allesamt als Digitalisate in diesem digitalen Umgebungsbild aufeinander treffen und mit den Textdateien und dem direkt digitalisierten Raum im Sprengel Museum interagieren? Zum einen wird hierdurch die Historizität des fotografischen Mediums betont, indem Differenzen in Format, Chromatik, Perspektiven und Aufnahmekonventionen sichtbar werden. In diesen visuell unmittelbar ins Auge springenden Unterschieden ist die Historizität der jeweiligen Ausstellungen miteingeschrieben. Zugleich sensibilisiert das offensichtlich Fragmentarische des fotografischen Mediums für die Unmöglichkeit, historische ‚Wahrheit‘ aus den überlieferten Quellen lückenlos zu rekuperieren. Das arbeitet einem anderen, durch die ‚Aufnahme‘ der verschiedenen Medien (gebauter Raum, Foto, Text) ins Digitale evozierten Potenzial der App entgegen: demjenigen der wechselseitigen Auratisierung der gebauten Räume der Abstrakten und ihrer Fotos. Die historischen Fotos mit ihrem machtvollen Zeigegestus (index) und ihrer nicht nur reproduzierenden, sondern Bedeutung verleihenden Referenzialität (indice) tragen schon in sich das Potenzial zum Foto-Fetisch und geben etwas davon an die in ihnen abgebildeten Räume der Abstrakten ab. Umgekehrt gewinnen die Fotos ihren gesteigerten Wert dadurch, dass sie uns nicht mehr existierende Kunsträume vor Augen stellen. Ihre Kapazität, Dinge ‚wiederauferstehen‘ zu lassen, konstruieren die vergangenen Räume als auratisch besetzte ‚Originale‘ mit, zeigen sie – einer Monstranz nicht unähnlich – immer wieder vor, und profitieren selbst von dieser ihrer Auratisierung.
Ist die Augmented Reality der App also so etwas wie die nächste mediale Hülle – einer digitalen Monstranz vergleichbar – , die von dem Wechsel aus Zeigen und Geheimnis in Bezug auf El Lissitzkys Raum der Abstrakten profitiert? Ja und nein. Denn sie verschränkt auratisierende wie auch entauratisierende Wahrnehmungsmöglichkeiten und übersetzt deren dialektische Rezeption in einen Zeitfluss, der deutlich macht, wie sich beide bedingen. Indem die App etwa die Historizität der Fotos unterstreicht, macht sie diese sowohl einer fetischistischen wie einer historisch-kritischen Rezeption zugänglich. Die Fotos können daher einer individuellen, kunsthistorischen oder ökonomischen Wertschätzung von Lissitzkys Projekt ebenso dienen wie der Erforschung der nationalsozialistischen Zerstörung und deren Fortleben in späteren ‚Wiedergutmachungsgesten‘. So setzt die App das Spezifische der Fotografie und ihr besonderes Verhältnis zu Vergangenheit und Gegenwart auch ein, um dem Wunsch zum subjektvergessenen Eintauchen in die vergangene Welt von Lissitzkys ursprünglichem Raum vehemente Widerhaken entgegenzusetzen. Denn die Lücken zwischen den Fotos schicken uns nicht nur auf die Suche nach dem, was nicht überliefert ist und was zwischen den erhaltenen Fotos verloren gegangen ist, sondern sie machen uns auf einer zweiten Ebene den nicht mehr wiedergutzumachenden Verlust bewusst, den die Zerstörung des Raums der Abstrakten durch die Nationalsozialisten und die Präsentation von Teilen in der Ausstellung Entartete Kunst 1937 angerichtet haben.
Ein eminent aktuelles bildpolitisches Potenzial tut sich hier auf, das dem virtuellen Demonstrationsraum durch die dort abrufbaren Fotografien eingeschrieben ist: Denn gerade in der Reibung zwischen der Aktivierung eines Gangs in die Geschichte zurück in Lissitzkys auratisierte Inkunabel einer internationalen Avantgarde und der Erfahrung des Bruchs zwischen den Bildern, der besagt, dass wir das durch die nationalsozialistische Politik Zerstörte niemals mehr in die Gegenwart holen und vollends rekonstruieren können, werden wir angehalten, wachsam zu sein: wachsam gegenüber Tendenzen in unserer unmittelbaren Umgebung wie auch in der weltpolitischen Landschaft, die das kulturell wie gesellschaftlich Vielschichtige zu zerstören drohen und an seine Stelle Diktaturen des Einen und Reinen aufzurichten versuchen.
In diesem Sinne wünsche ich dem Projekt zahlreiche emanzipierte Nutzer*innen.
Dank
Da das Projekt als Eigeninitiative aus der Mitte der Stipendiat*innen des Gradiertenkollegs Das fotografische Dispositiv entstanden ist, möchte ich als Leiterin des Kollegs an erster Stelle den Kollegiat*innen Carolin Anda, Yvonne Bialek, Cornelia Durka, Alexander Karpisek, Natascha Pohlmann und Philipp Sack für ihr großes Engagement danken. Ihnen stand Marcelina Kwiatkowski, die wissenschaftliche Koordinatorin des Graduiertenkollegs mit ihrer großen organisatorischen Kompetenz zur Seite. Hierfür einen ganz herzlichen Dank an sie.
Ein solch wissenschaftlich wie technisch ambitioniertes Unterfangen lässt sich jedoch nicht in einer kleinen Gruppe umsetzen. Und so ist das Projekt auch ein herausragendes Beispiel für die Zusammenarbeit unterschiedlichster Personen und Institutionen. Für ihre mutige, flexible und großzügige Finanzierung gilt daher ein großer Dank der DFG, die im Rahmen des Graduiertenkollegs die App an erster Stelle unterstützt hat, der Vertretung des Landes Niedersachsen beim Bund, Berlin, der Stiftung Niedersachsen, dem Förderkreis der HBK Braunschweig (†Bernd Huck) und der Nord/LB.
In der Konzeptionsphase der grafischen Gestaltung und Programmierung des User-Interface standen der Gruppe zudem Prof. Uli Plank und Prof. Michael Seifert vom Institut für Medienforschung der HBK Braunschweig beratend zur Seite; auf ihre Initiative hat Friederike Kühne, Absolventin des Faches Kommunikationsdesign an der HBK, das Projekt zum Thema ihrer Bachelorarbeit gemacht und maßgeblich die Gestaltung von App, Publikation und Website übernommen. Die Programmierung der Ausstellung als App lag in den fachkundigen Händen der Agentur Die Etagen GmbH. Hier gilt der Dank Stefan Springfeld für sein Verständnis für die spezifischen Anforderungen und seine Geduld bei der technischen Umsetzung. Der Dank erstreckt sich auch auf André Josef für die finanzielle Unterstützung des Projekts von Seiten der Agentur und sein Sponsoring der zusätzlich entwickelten Selfie-Funktion für die Präsentation im Sprengel Museum.
Auch eine virtuelle Ausstellung ist jedoch nicht zu denken ohne die Institutionen und Orte, von denen aus sie initiiert wurde und für die sie gedacht ist. Dem Sprengel Museum, das die komplizierte Geschichte von Lissitzkys Raum der Abstrakten durch seine Ausstellung wachhält, sei daher ausdrücklich gedankt, und hier insbesondere Inka Schube, Leiterin der Abteilung für Fotografie und Medien, über die der erste Kontakt lief, sowie Dr. Isabel Schulz, Leiterin des Kurt Schwitters Archivs, die großzügig ihre profunde Expertise beigesteuert hat, für die große Offenheit, mit der sie die neuartige Perspektivierung auf diesen prototypischen Raum der Moderne aufgenommen und unterstützt haben. Dasselbe gilt für die HBK, in deren Hochschulgalerie im Oktober 2016 eine weitere Etappe der Aufführung des Demonstrationsraumes präsentiert wurde, so dass das Projekt an seinen wissenschaftlich-konzeptionellen Ursprungsort zurückkehrte. Hier geht unser Dank insbesondere an Anne Prenzler, die langjährige Leiterin des Amtes für Öffentlichkeitsarbeit und Ausstellungswesen (heute: Sachgebietsleitung Kulturförderung, Kulturbüro der Stadt Hannover), ihrer Nachfolgerin Karen Klauke, sowie Viola Steinhoff-Meyer (Ausstellungsmanagement der HBK), die sich hierfür so entschieden eingesetzt haben. Und last but not least geht unser ganz herzlicher Dank an die Vertretung des Landes Niedersachsens beim Bund und vor allem an Frau Stefanie Sembill für ihre enthusiastische Resonanz auf das Projekt, die gastfreundliche Aufnahme in den Räumen der Landesvertretung und die Einbettung in die Fachtagung im Dezember 2015, die eine Initialzündung für erneute Debatten um Lissitzkys Raum der Abstrakten bot. Dafür, dass sie die Ausstellung 2017 an das Städtische Zentrum für Bildende Künste Nowosibirsk vermittelt hat, danken wir ganz herzlich der Leiterin des dortigen Goethe-Instituts, Frau Dr. Stefanie Peters. Möge es die erste von vielen Stationen sein.
Das Projekt demonstrationsraum steht somit für eine große Offenheit und ein enormes Engagement aller Beteiligten in ihrem Bestreben, die Brücke zwischen Wissenschaft, Kunst und Politik/Hochschule, Museum und Öffentlichkeit/Theorie und Praxis immer wieder neu zu schlagen.
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>>> Anda/Bialek/Durka/Karpisek/Pohlmann/Sack: Die Bedingungen des Ausstellens ausstellen, die Bedingungen des Wahrnehmens wahrnehmen. Die Augmented-Reality-App demonstrationsraum als kuratorischer Versuch der Aktualisierung von Subjektpositionen im Umgang mit dem Kabinett der Abstrakten
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